Der Schatten im Wasser
artikulieren.
Es war kühl, und Micke fror an den Ohren. Er hatte seine Kappe zu Hause vergessen, weil er total im Stress war, als er loswollte. In der U-Bahn war er schwarzgefahren und jetzt stand er vor Robins Haus. Tippte den Türcode ein.
»Komm so gegen Mittag, ich versprech dir, bis dahin die Knete zu haben«, hatte Robin am Telefon gesagt. Im Hintergrund war es laut gewesen, ein Mädchen hatte gekreischt und gejault. Ob sie fröhlich oder traurig war, hatte er nicht ausmachen können.
»Wo bist du?«, hatte Micke geschrien.
»Ich bin jetzt nicht zu Hause, aber komm morgen.«
Er hatte sich eigenartig abgefertigt gefühlt.
Das Treppenhaus war dreckig und voller Müll. So war es bei ihnen zu Hause nicht, zu Hause in Bromma. Es würde allerdings auch einen Höllenärger geben, wenn jemand einfach seine Kippen vor Nettans Tür werfen würde. Der Morgen war ein Albtraum gewesen. Sie war in sein Zimmer hineingeplatzt, hatte ihm die Decke weggezogen und stand dort in ihrer Jacke, mit den Armen fuchtelnd wie eine Windmühle. Er hätte sich einschließen sollen, aber das hatte er vergessen. Er lag in seinem Bett und fühlte sich wohl, lag und dachte an Karla Faye Tucker.
Wie ein Eimer mit eiskaltem Wasser.
»Zum Teufel, Micke, du bist verdammt noch mal der größte, faulste Egoist, den ich jemals getroffen habe. Du bist sogar noch schlimmer als dein Vater, schlimmer als Nathan. Da stutzt du, was? Ich mache das nicht länger mit. Ab jetzt musst du dein Leben selber in die Hand nehmen.«
»Was, was ist denn?« Er riss das Laken an sich.
»Reisebüro. Ha! Wenn er es schon nicht geschafft hat, wirst du es ja wohl erst recht nicht hinkriegen. Wie kann man nur auf so eine Idee kommen! Was für ein Größenwahn! Alles nur dummes Geschwätz, ja, quatschen könnt ihr. Aber dann, was dann? Keinen blassen Schimmer. Als ich klein war, hieß es immer: große Klappe und nichts dahinter. Denk mal darüber nach, du, Mr. Lazy Bone.«
»Halt die Klappe«, murmelte er.
»Du sagst nicht halt die Klappe zu deiner Mutter, damit das ein für alle Mal klar ist!«
Und dann warf sie sich auf sein Bett, ergriff seine Ohren und riss ihn zum Sitzen hoch. Gab ihm mit der flachen Hand eine Ohrfeige, erst links und dann rechts, es tat höllisch weh, während seine eigene Hand reflexartig vorschnellte, um sich zu wehren. Doch sie presste ihn bereits wieder hinunter aufs Kissen und ging. Knallte die Tür hinter sich zu, sodass das Bild im Flur von der Wand fiel und das Glas in hunderttausend Teile zersprang.
Robin öffnete nicht. Micke klingelte mehrmals, doch kein Laut war zu hören.
»Verdammt«, brummte er.
Er drückte den Türgriff herunter und stellte zu seiner Überraschung fest, dass sie unverschlossen war. Schnell schlüpfte er hinein und schloss hinter sich.
»Robin?«, rief er. »Bist du zu Hause? Ich bin’s, Micke.«
Ein schmaler Streifen Licht fiel auf den Fußboden im Flur. Er stolperte beinahe über Robins Sportschuhe. Vor der Toilettentür standen ein paar Tüten mit gebündelten Reklameprospekten, die mit einem Gummiband zusammengehalten wurden. Windeln zum Sonderpreis!, las er. Er rief erneut und meinte Geräusche aus der Wohnung zu vernehmen.
Robin lag im Bett. Eine schmuddelige Bettdecke bedeckte die eine Seite seines Körpers. Er sah aus, als sei er tot. Lag dort in seinen schlottrigen Unterhosen, die Arme wie ein Gekreuzigter ausgebreitet. Er hatte sogar den passenden Bart dazu, wie Jesus. Auf seiner Brust wuchsen vereinzelte borstige Haare, sein Mund stand offen, die Augen waren eitrig und verklebt.
»Was ist denn mit dir los?« Micke berührte seine eingefallenen Wangen, deren Haut sich zäh wie Gummi anfühlte.
Aus Robins Mund kam ein Laut und der Gestank nach faulen Eiern.
»Was ist los?«, fragte er erneut. »Robin, verdammt. Antworte!«
Robin murmelte etwas Unverständliches. Er lebte also.
»Du hast mir die Knete versprochen, du hast gesagt, dass ich heute kommen soll. Ich brauche den Zaster. Verstehst du, ich brauche ihn!«
Der andere schnalzte mit den Lippen, während die Zunge wie bei einem Zurückgebliebenen heraus- und wieder hineinfuhr. Micke seufzte.
»Verdammt, was einem die Leute manchmal auf den Geist gehen. Verdammt!«
Robin machte den Ansatz, sich zu drehen, schaffte es aber nicht ganz. Die Decke glitt seitlich herunter und entblößte seinen linken Arm, der mit blauen Flecken und Einstichen übersät war. In dem Moment erblickte Micke sie. Die Nadel! Sie steckte in Robins Arm und
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