Der Schatten im Wasser
können.«
Sie schluckte und schloss die Augen.
»Ich weiß, wie es ist, wenn jemand schweigt«, fuhr er fort. »Ich habe es so viele Jahre lang erlebt. Und ich kann es nicht länger ertragen, ich halte dieses Schweigen nicht mehr aus.«
»Nein …«
»Ist es etwas, was du mir noch nicht erzählt hast?« Er zwang sich zu sprechen, zwang sich, sie zu bitten, etwas zu enthüllen, das im schlimmsten Fall alles, was sie miteinander verband, zunichte machen würde.
Justine machte einen Schritt auf ihn zu. Sie sah mit einem Mal so anders aus, wie jemand, den er gar nicht kannte.
Er wandte sich halbwegs von ihr ab und hielt sich mit den Händen den Kopf.
»Justine, antworte mir auf eine einzige Frage. Das, was dich quält, hat es mit dem Tod zu tun?«
»Vielleicht«, flüsterte sie. »Ja, das hat es.«
JILL KRAMTE ihre Autoschlüssel hervor. Eigentlich brauchte sie gar kein Auto. Wenn sie nach Stockholm wollte, konnte sie bequem mit dem Bus oder mit der Bahn fahren. Und zur Arbeit konnte sie radeln, außer im Winter natürlich, wenn Schnee lag. Doch das kam in letzter Zeit eher selten vor, und wenn, dann nur für kurze Zeit, bis er wieder schmolz und den gefrorenen Boden freigab.
An diesem Tag, einem Montag, hatte sie frei. An diesem Tag musste es geschehen. Sie konnte es nicht länger hinausschieben, sie musste endlich tun, was sie so lange gescheut hatte, nämlich nach Hässelby hinausfahren und Justine aufsuchen. Sie wollte nicht vorher anrufen, sie auf keinen Fall auf ihren Besuch vorbereiten. Einfach an ihrer Haustür stehen und klingeln.
Hatte Berit es auch so gemacht?
In ihrem Inneren glaubte sie nicht daran, dass sie etwas anderes erfahren würde als das, was alle anderen auch schon wussten. Tor war ja bereits dort gewesen. Und die Polizei. Justine hatte vermutlich alles berichtet, was zu berichten war. Und dennoch musste sie es tun. Tor zuliebe. Und sich selbst zuliebe. Vielleicht würde ja doch noch ein ungeahnter, winziger Hinweis auftauchen.
Das alte Auto startete nach mehreren Versuchen. Sie hatte es gekauft, als sie nach Södertälje gezogen war, hatte angenommen, dass sie es öfter benutzen würde. Ein Passat, Baujahr
1991, der bereits an verschiedenen Stellen Rost angesetzt hatte.
»Achten Sie auf die seitlichen Verstrebungen«, hatte man sie beim Autokauf gewarnt. »Wenn es dort anfängt zu rosten, ist es zu spät, dann können Sie gleich zum Schrottplatz fahren.«
Die seitlichen Verstrebungen, dachte sie. Wo sitzen die?
Sie tankte an der Tankstelle bei Weda. Unfassbar, wie teuer das Benzin geworden war. Ihr fiel ein, dass sie den ganzen Sommer über nicht getankt hatte, jedenfalls nicht in Schweden. Sie hatte den Passat nämlich seit dem Frühjahr nicht mehr benutzt. Er war eingestaubt und sah mitgenommen aus, auf der Motorhaube befanden sich Abdrücke von Katzenpfoten. Eine Garage wäre nicht verkehrt gewesen, aber in der Nähe war keine freie zu bekommen, und außerdem konnte sie sich keine weiteren Ausgaben leisten. Das Auto an sich war schon teuer genug.
Der Tag war sonnig, aber kalt, und ein scharfer Wind drückte die Wellen in die Bucht hinein, in der sich die Schwanenfamilie aufzuhalten pflegte. Sie hatte sie erblickt, als sie das Rollo hochzog. Zwei Erwachsene mit drei grauen Jungen, die bald ihre Farbe wechseln und weiß werden würden. Sie hatte die Bucht Schwanenbucht getauft. Im Sommer konnte man hinuntergehen und hier baden, sogar nackt, wenn man früh dran war.
Aber jetzt war es Herbst geworden. Diese Jahreszeit hatte etwas Wehmütiges an sich, etwas, das mit Verlust und Vergänglichkeit zu tun hatte. Sentimentalität erfüllte sie. Ich bin allein, ging es ihr durch den Kopf. Zum wiederholten Mal kam ihr der Gedanke, dass, wenn sie stürbe, es keinesfalls klar war, wer ihr Begräbnis ausrichten würde. Ihre Eltern waren schon lange tot, und Geschwister hatte sie keine. Es war genauso wie bei Berit, dieselbe Situation.
Die Jungs, dachte sie. Ihre Arbeitskollegen, sie würden sich wohl um die Zeremonie kümmern müssen. Sie war noch nicht einmal Mitglied in der Schwedischen Kirche. Wussten sie das? Und Tor natürlich, Tor.
Der Geruch seines Körpers lag noch auf ihrer Haut. Sie hatte sich nicht darum gekümmert zu duschen. Kurz nach Mitternacht hatten sie sich ausgezogen und dicht nebeneinander in ihr Bett gelegt. Ihre Hände hatten angefangen, einander zu streicheln, sein Glied fühlte sich in ihren Handflächen so weich an, weich, aber stark und wachsend. Als er in
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