Der Schatten im Wasser
gehen?«
Er hatte den Eindruck, dass sie leicht den Kopf bewegte. Aber was bedeutete das? Ja oder nein? Er hatte heute frei, es war einer ihrer seltenen gemeinsamen Abende. Sonst sehnte sie sich nach den gemeinsamen Stunden, sehnte sich danach, zusammen etwas Leckeres zu kochen, eine Flasche Wein zu trinken, sich möglicherweise zu lieben. Irgendetwas war während des Besuchs bei seinen Eltern geschehen. Etwas, das er nicht verstand.
Er streckte seinen Arm aus, und der Vogel reagierte, indem er zu ihm hinübersprang. Er plusterte sich auf und pickte mit dem Schnabel in seinem Gefieder.
»Glaubst du, dass er Hunger hat?«
Sie rührte sich nicht.
»Wahrscheinlich, ich mache ihm etwas zu fressen.« Hans Peter ging in die Küche und wollte gerade die Kühlschranktür öffnen, als das Telefon klingelte. Mit einem kurzen Schnalzen bedeutete er dem Vogel, wegzufliegen. Dieser setzte sich auf die Gardinenstange, hielt sich mit seinen Krallen fest, drehte den Kopf und beobachtete ihn.
»Ich gehe nur ans Telefon«, murmelte er, dabei fiel ihm auf, dass er mit einem Tier sprach, von dem er mehr Resonanz erhielt, als von ihr da drinnen, der schweigenden Frau am Fenster.
Zuerst erkannte er die Stimme nicht wieder. Sie war klangvoll und ruhig, sie hörte sich sonst ganz anders an, hatte etwas Verängstigtes, Flehendes an sich gehabt, das sie kindlich wirken ließ.
»Störe ich?«, fragte sie.
»Nein, keinesfalls. Wir haben dir ja angeboten, jederzeit anzurufen.«
»|a. Doch. Ich weiß.«
Sie verstummte, und er begriff plötzlich, dass irgendetwas geschehen sein musste.
»Ariadne?«, fragte er schnell.
Er spürte, dass sie im Begriff war, etwas zu sagen.
»Fängt er jetzt schon wieder an?«, fragte er. »Ich meine, dein Mann, Tommy?«
Da schluchzte sie auf, und er beeilte sich, weiterzufragen.
»Kannst du reden?«
»Er …« Sie unterbrach sich, und er hörte, wie sie mit einem Papiertaschentuch raschelte.
»Ist er jetzt da? Dieses Schwein. Ich komme und hole dich und Christa, das werde ich tun, ich setze mich sofort ins Auto und komme.«
»Nein«, wandte sie schluchzend ein. »Das brauchst du nicht. Tommy lebt nicht mehr. Tommy ist tot.«
»Was?«
»Ja, es stimmt. Er starb gestern Abend an einem allergischen Schock.«
Es dauerte eine Weile, bis sie ihm geschildert hatte, was geschehen war. Wie er sich gequält hatte, die blanke Angst in seinen Augen, der Krankenwagen, der ihn abtransportierte.
Er wusste nicht, was er sagen sollte.
»Ich werde es nie vergessen«, sagte sie, »nie. Einen Menschen sterben zu sehen, einen Menschen, den man so viele Jahre gekannt hat und der Vater des eigenen Kindes ist. Was auch immer er getan hat … Aber ihn zu sehen, wie jegliches Leben aus ihm weicht.«
Hans Peter ließ sie reden, die Worte strömten nur so aus ihr heraus, von Weinattacken unterbrochen. Nach einer Weile verstummte sie.
»Und wie geht es Christa?«, fragte er.
»Sie ist natürlich traurig.«
»Möchtet ihr herkommen?«
»Du bist so nett, Hans Peter. Du bist so nett.«
»Wie gesagt, ich kann kommen und euch holen. Das ist kein Problem, ich tu es gerne.«
»Das brauchst du nicht. Wir haben es hier zu Hause jetzt so friedlich. Ich und meine Christa. Wir werden uns umeinander kümmern, wir beide.«
Irgendetwas an ihrer Sprache war anders. Plötzlich fiel ihm auf, was es war. Sie sprach völlig ohne Akzent.
Ihm fiel eine Redewendung ein, ein deutsches Sprichwort, das sich ihm während seiner Gymnasialzeit eingeprägt hatte. Ein Sinnspruch von Laotse, dem Begründer des Taoismus.
»Ariadne, hör mal«, begann er. »Es gibt ein altes Sprichwort, das so lautet: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Ja, genau, das trifft es wirklich verdammt gut.«
»Was bedeutet das?«
»Dass dein Leben nun endlich richtig beginnen kann.«
Justine stand immer noch in derselben Position dort. Er empfand plötzlich einen heftigen, aufflammenden Zorn gegen sie.
»Ich will nicht, dass es so weitergeht!«, sagte er.
Sie schwieg.
»Irgendetwas ist dort bei Mama und Papa passiert. Ich möchte, dass du es mir erzählst.«
Immer noch keine Reaktion.
»Hat es mit Mama zu tun? Ich weiß, dass sie manchmal ziemlich taktlos ist, das weiß ich wohl. Aber sie meint es nicht so. Sie ist einfach nur eine verbitterte, müde, alte kleine Frau, das musst du verstehen.«
Langsam wandte sie sich ihm zu.
»Nun sag schon«, bat er flehend. »Es bringt uns nicht weiter, wenn wir einander nichts mehr erzählen
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