Der Schatten im Wasser
kaum, die Bücher fertig zu machen, mit denen man gerade beschäftigt ist, bevor es losgeht.«
»Zieht ihr denn jetzt schon um? Ich meine, Berit hätte etwas von Spätsommer gesagt.«
»Er möchte, dass wir schon mal aufräumen.« Sie machte mit dem Kopf eine Bewegung in Richtung Korridor. »Er selbst will so schnell wie möglich weg. Wir anderen werden nachkommen, sobald wir da oben in der Lappenhölle eine Bleibe gefunden haben. Also, falls wir überhaupt mitgehen. Es ist nämlich verdammt schwer. Natürlich will keiner von uns dort hinziehen, denn jeder hat ja hier sein Domizil, ist sozusagen hier verwurzelt. Aber möglicherweise ist man dazu gezwungen. Die Verlagswelt ist ziemlich speziell, wie du weißt, extrem statisch. Es gibt nahezu niemals irgendwelche freien Stellen. Die Branche ist in höchstem Grade ein Markt der Arbeitgeber.«
Sie presste die Kiefer gegeneinander. Die Haut unter ihrem Kinn hing schlaff und faltig herunter, sie wirkte gealtert.
»Weißt du denn schon, was du tun wirst?«, fragte Jill vorsichtig.
»Nein, ich habe mich noch nicht entschieden. Ich hab immerhin zwei schulpflichtige Jungs und muss sowohl mich als auch sie versorgen. Aber sie aus ihrem gewohnten Umfeld, ihrem Freundeskreis und allem zu reißen …«
Sie hielt inne. Irgendwo weit entfernt klingelte ein Telefon.
»Das mit Berit«, begann Jill.
»Ja.«
»Wo, zum Teufel, mag sie nur stecken?«
»Es ist mir unerklärlich. Einfach weg, von einem Tag auf den anderen. Ich bin so schrecklich beunruhigt.«
»Glaubst du … dass es mit dem Job zu tun hat? Lüding deutete etwas in der Art an. Dass sie sich sozusagen bewusst fernhalten könnte.«
Annie begegnete ihrem Blick, ernst und aufrichtig.
»Nein, das glaube ich nicht. Ich habe Angst, Jill. Ich fürchte, dass ihr etwas zugestoßen ist.«
Einige Tage später meldete sich die Polizei bei Jill. Sie riefen sie auf der Arbeit an. Da sie noch ziemlich neu beim Schifffahrtsamt war, empfand sie Unbehagen, als Fred ihr den Telefonhörer reichte.
»Können Sie bitte zu uns kommen, wir müssen mit Ihnen reden.« Keine Frage, sondern eher eine Order.
Sie war nach Södertälje gezogen und hatte eine Wohnung in einem der roten Mehrfamilienhäuser ganz unten in Bergvik gefunden. Sie lag im Erdgeschoss, sodass man keine direkte Aussicht auf die Kanalmündung hatte, aber das machte nichts. Vom Schleusenturm aus, in dem sie arbeitete, konnte sie das Wasser umso besser sehen. Nachts jedoch lag sie oft wach und horchte, wenn die großen Handelsschiffe den Kanal auf ihrem Weg in die Ostsee oder den Mälarsee passierten. Dann versuchte sie zu erraten, um welches Schiff es sich handelte. Mehrere von ihnen erkannte sie bereits am Motorengeräusch. Marine aus Kingstown machte am meisten Lärm. Da vibrierten sogar die Fensterscheiben.
Sie hatte nach einer insgesamt neunjährigen, ziemlich zermürbenden Beziehung mit Pelle Schluss gemacht. Sie hatten nie zusammengewohnt, sonst hätten sie sich wahrscheinlich gegenseitig umgebracht. So stellte sie es sich zumindest vor. Jeder besaß seine eigene Wohnung, sie in Råcksta, er in Alvik. Sie waren beide bei Haglunds Rör angestellt, in einem typisch männlichen Milieu, in dem sie die einzige Frau war. Sie hatte im Büro gesessen, das Telefon bedient, Rechnungen gestellt, die Löhne an die Dutzend Angestellten ausbezahlt, auch Kaffee gekocht und sie alle umsorgt, bis ihr eines Tages alles zum Hals heraushing. Sie kündigte auf Gedeih und Verderb und strebte eine völlig neue Laufbahn an. Schleusenwacht. Oder VTS-Operateur, wie es offiziell hieß. Vessel Traffic Service. Dieses Metier wurde ihr neues Berufsfeld.
Zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich bereits daran gewöhnt, allein zu leben. Denn aus nächster Nähe konnte sie bei Berit und Tor verfolgen, was eine Ehe aus den Menschen machen konnte. Oder vielleicht eher, wozu Menschen in der Lage waren, wenn es darum ging, ihre Ehe zu ruinieren.
Zu Beginn der Ermittlungen stand Tor sogar auf der Liste der Verdächtigen. Jill war sich natürlich über die statistischen Fakten im Klaren. Wenn jemand irgendeiner Form von Gewalt ausgesetzt ist, ist in der Mehrheit der Fälle eine nahestehende Person involviert. Deshalb war sie auf der Hut, als die Polizei sie zum Verhör einbestellte. Und dennoch musste sie offen und ehrlich Rechenschaft über die Dinge ablegen. Berit und Tor hatten sich auseinandergelebt.
»Sie haben sie schon lange gekannt, oder?« Es war eine Polizistin, die die Fragen stellte. Sie
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