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Der Schatten im Wasser

Der Schatten im Wasser

Titel: Der Schatten im Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inger Frimansson
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sie nicht mögen?«
    »Mir persönlich ist nichts dergleichen bekannt, und wenn es so wäre, dann hätte sie es mir mit Sicherheit erzählt, davon bin ich überzeugt.«
    »Treffen Sie sich oft?«
    »Wenn wir uns nicht sehen, dann halten wir in jedem Fall Kontakt. Wir telefonieren zumindest. Ich bin ja vor Kurzem umgezogen, nach Södertälje. Rein geografisch gesehen ist die Entfernung jetzt etwas größer. Aber das bedeutet nichts, wenn man befreundet ist.«
    Die Polizistin fingerte an ihren Zöpfen.
    »Eine vielleicht etwas eigenartige Frage, aber wie nahe stehen Sie sich, können Sie das beschreiben?«
    »Wir sind wie Schwestern. Ja, genau wie Schwestern. Denn wir waren beide Einzelkinder, und wir haben uns bereits am ersten Schultag gesucht und gefunden. Seitdem haben wir immer zusammengehalten.«

ER STAND EINE WEILE so und hielt sie umarmt. Sie war fast genauso groß wie er, fühlte sich aber ganz anders an als Berit. Robuster. Wie ein Stamm, ein Baumstamm. Aufrecht und fest. Ihre Haare und ihr Gesicht waren nass.
    »Wenn ich dich jetzt sehen würde?«, wiederholte er leicht irritiert.
    Sie hatte das Gesicht von ihm abgewandt.
    »Es regnet«, lenkte sie mit belegter Stimme ab und entzog sich ihm noch ein wenig mehr. Er nickte. Ihr Haar war glatt.
    »Wir befinden uns ja auch an dem Ort, an dem der Tiefdruck geboren wurde.«
    Sie standen so still, dass er spürte, wie ein schwaches, nahezu unmerkliches Zittern ihren Körper durchfuhr.
    »Du frierst«, stellte er fest, und es schien, als wüchse er, als würde Kraft in ihn hineingesaugt, bis tief in alle Öffnungen und Hohlräume, in denen die Trauer so lange gelegen und sich ausgebreitet hatte. Langsam zog er ihr die Jacke aus, kniete sich hin und löste die Schleifen der Schnürbänder an ihren Schuhen. Ihre Füße waren groß und ebenmäßig, ohne Druckstellen. Sie fühlten sich wie Eisklumpen an. Er nahm Jill an der Hand und führte sie ins Badezimmer. Die Wärme des Bodens durchströmte sie beide, von den Fußsohlen über die Waden die Beine hinauf. Er hielt ihre Hände in den seinen, rieb sie. Sie hatte runde Fingernägel, kurzgeschnitten, unlackiert. Anders als Berit, völlig anders.
    »Was hattest du gefragt, als du hereinkamst?«, wollte er wissen. »Worauf bezog sich das?«
    »Ich weiß nicht. Aber manchmal fühle ich mich so …«
    »So?«
    »Unsichtbar.«
     
    Sie saßen im Auto, und es hatte aufgehört zu regnen. Es war windstill, aber kalt, und die Luft schneidender als gestern.
    »Wohin möchten Sie fahren, schöne Frau?«
    In ihrer Art zu schweigen lag etwas Neues, Geheimnisvolles. Schließlich schlug er klatschend die Hände zusammen.
    »Ich habe eine Idee! Wir fahren einfach los. Nach Westen, so weit wir kommen. Wir müssen uns ja nicht an irgendwelche Zeiten oder Verabredungen halten. Wir können genau das tun, wozu wir Lust haben.«
    Ein schüchternes, zufriedenes Lächeln.
    Die Landschaft war abwechslungsreich. Massive Berge und Felsklippen wurden von Wiesen mit weidenden Schafen und sandigen Meeresbuchten abgelöst, die verlassen dalagen, keine Menschenseele. Die kurze Sommersaison war zu Ende. Sie passierten das eine oder andere Dorf, aber auch einzelne Häuser, von deren Fassaden die rote Farbe abgeblättert war, sodass das ursprünglich graue Holz wieder sichtbar wurde. Mehrere Höfe lagen verlassen da, leere Fenster ohne Leben. Die Straße war trocken und neu geteert, kilometerweit glatter, schwarzer Asphalt. Nach einigen Stunden Fahrt endete sie. Völlig abrupt, ohne Vorwarnung.
    »Jetzt sind wir so weit gefahren, wie es nur geht!«, stellte Tor fest. »Östlich der Sonne, westlich des Mondes.« Diese Redewendung kam ihm gerade in den Sinn. Ein Ausspruch von früher, von vor langer Zeit. Er sah plötzlich seine Söhne vor sich, zwei blonde Haarschöpfe, auf- und abwippende Schnuller, herabrinnender Speichel. Wie leicht sie damals zu beeinflussen waren, die kleinste Veränderung in der Stimme, Papa, du bist doch nicht böse, Papa?
    Sie stiegen aus und schlossen das Auto ab. Spazierten auf federnden Moosflächen und Heidekraut dahin. Erreichten schließlich den Wassersaum. Bis dorthin hörten sie den Klang der Glocke eines Schafes. Die Sonne brach sich im Wasser wie in einem schimmernden Meer aus Kupfer.
    »Wenn ich eine solche Glocke tragen müsste, würde ich verrückt werden«, sagte Jill und war jetzt wieder so wie immer. »Niemals diesen Krach loszuwerden. Ja, überleg nur, wie eine Art äußerlicher Tinnitus, mit dem irgendein

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