Der Schatten im Wasser
geschiedenen Eltern aufzuwachsen, als euer Verhalten als Beispiel erleben zu müssen. Damit hättet ihr uns viel eher schaden können, all das auf Jens und mich übertragen können, aber Gott sei Dank sind wir stark genug, zum Glück konnten wir uns schützen und sind normale Menschen geworden.«
Er hielt inne, war aber längst noch nicht fertig. Es war an einem Frühlingstag, eine Kohlmeise zwitscherte in den Fliederbüschen. Es klang, als bekäme sie nicht genügend Luft.
Tor hob zu einer Antwort an, als sich plötzlich ein reißender Schmerz in seiner Herzgegend auszubreiten begann. Er erinnerte sich immer noch daran, was er damals dachte:
Das ist ja fantastisch, perfekt, ein Herzinfarkt, jetzt werd ich’s dir aber zeigen, du verdammter Bengel!
SIE KAUFTE AN DER U-Bahnstation Brommaplan ein. Fettarme Milch, eine Dose Schinken. Gemüse. Sammelte ein paar lose Süßigkeiten aus verschiedenen Kunststoffbehältern zusammen und legte sie in eine Tüte, dachte an ihre Tochter, und im selben Moment schlugen die Kopfschmerzen wie elektrische Stöße hinter ihren Augenlidern ein. Die Geblümte saß wie immer an der Kasse, Ariadne nannte sie im Stillen so. Die Geblümte. Um die 55 Jahre alt, mit roten Flecken an Hals und Wangen. Sie saß schon so lange dort, wie Ariadne sich erinnern konnte. Und dennoch kannten sie einander nicht, grüßten sich jedes Mal so distanziert, als sei es das erste Mal.
»Das macht dann 173 Kronen«, sagte die Geblümte, und während Ariadne ihr Portemonnaie hervorholte, meinte sie, ein Gefühl des Unbehagens im Gesicht der Kassiererin zu erkennen. Sie neigte das Kinn ein wenig tiefer zur Brust, wusste jedoch, dass es nichts nützen würde. Die Frau hatte ihre geschwollenen und misshandelten Lippen bereits wahrgenommen. Das Bedürfnis, etwas zu sagen, zu erklären, überkam sie. Es ist auf der Treppe passiert, ich bin gestolpert und hingefallen, es war reine Glückssache, dass ich mir nicht das Genick gebrochen habe. Aber sie schwieg. Die Hand zu einer Schale geformt, das Rückgeld in Form von Scheinen und Münzen entgegennehmend.
Sie musste eine ganze Weile auf den Bus 305 warten. Es war fast jedes Mal so. Die Schlange wurde länger und länger, sie stand als eine der Ersten dort, und die Tüten in ihren Händen wurden schwer. Es war bereits nach sechs Uhr. Sie hätte sich früher auf den Weg machen sollen. Als der Bus endlich kam, ergatterte sie einen Sitzplatz, wo sie mit dem Kopf zum Fenster gewandt saß und Bäume und Wiesen vorbeiziehen sah, einige Pferde mit ausgedünnten Mähnen standen auf der Weide. Christa hatte darum gebettelt, mit Reiten anfangen zu dürfen, doch Ariadne hatte sich dagegen gesträubt. Große Tiere jagten ihr Angst ein, diese enormen launischen Kraftpakete, und außerdem war ihr klar, dass sie selbst es in diesem Fall übernehmen müsste, Christa zum Stall zu begleiten, um ihr zu helfen.
»Auf manche Dinge muss man eben verzichten«, hatte sie dem Mädchen vorsichtig klarzumachen versucht, ohne die Behinderung zu erwähnen, sie war ja ohnehin offensichtlich, augenfällig im wahrsten Sinne des Wortes. Christa war gegangen und hatte sich an die Wand gestellt, ihre langen Haare hin- und hergeworfen, während ihre Nase lief und Tränen ihre Wangen hinabrannen.
Im Frühjahr hatte Tommy sie beide zum Stall mit den Polizeipferden mitgenommen, beschützend hatte er den Arm um seine Tochter gelegt und sie zu Mara geführt, einer alten, knochigen Stute, die bald reif für die Schlachtbank sein würde. Mit einem Kloß im Hals hatte Ariadne die Hand ihrer Tochter beobachtet und wie das graue Pferdemaul diese vorsichtig nach etwas Essbarem absuchte. Ariadne hatte Christa etwas ungeschickt ein paar geschälte Mohrrüben gereicht. Dann konzentrierte sie sich auf das kraftvolle Mahlen der großen, abgeflachten Pferdezähne.
»Oh, Mama, ich möchte so gerne, ich möchte«, hatte das Mädchen während der Rückfahrt ständig wiederholt. Tränen glänzten auf ihren apfelrunden Wangen. Tommy saß schweigend mit beiden Händen am Lenkrad. Ariadne wusste, was er dachte.
Nach einer halben Stunde hielt der Bus an der Haltestelle Lindkvists Ecke. Es ging auf sieben zu. Ariadnes helle Hosen waren zerknittert, und der Bund schnitt ihr in den Unterleib. Sie verspürte das Bedürfnis, ihn ein wenig zu weiten, zurechtzurücken, schämte sich aber, es vor den Augen der anderen Fahrgäste zu tun. Als sie ausstieg, überfiel sie ein kurzer Schwindel. Sie kniff die Augen zusammen und spürte
Weitere Kostenlose Bücher