Der Schatten im Wasser
Kasse war also lang. Dann musst du ja verdammt lange eingekauft haben.«
Sie schwieg, spürte, wie ihr Herz pochte.
»Du arbeitest bis um drei Uhr, oder? Fünfzehn Uhr. Ist es nicht so?«
»Doch«, flüsterte sie.
»So lange dauert es nie und nimmer, nach Hause zu fahren. Nicht einmal, wenn die Schlange lang ist.«
»Heute kam etwas dazwischen.«
»Aha. Es kam etwas dazwischen.«
»Ja.«
»Kamen vielleicht ein paar Gäste dazwischen, oder?«
»Wir haben geredet, es ging um etwas Wichtiges.«
»Ihr habt also geredet?« Er lockerte den harten Griff um ihren Leib und hob eine Hand. Berührte ihr geschwollenes Gesicht mit seinen Fingerspitzen. Es brannte wie Feuer.
»Ja.«
Wie aus der Ferne hörte sie Christa mit dem Besteck klappern.
»Und mit wem? Mit wem hast du gesessen und geredet, anstatt nach Hause zu fahren und dich um deine Familie zu kümmern?«
»Hans Peter hat geredet. Und ich.«
»Hans Peter.«
»Ja.«
»Und was war so wichtig, dass ihr gerade heute darüber reden musstet? So wichtig, dass alles andere zurückstehen musste! Alles andere!« Die letzten Worte brüllte er heraus, sodass Speichelspritzer auf seiner Unterlippe sichtbar wurden. Genau in dem Moment klingelte das Telefon. Er schob sie so heftig von sich, dass sie gegen die Spüle stieß. Es schmerzte in der Hüftgegend. Er ging mit festen Schritten in die Diele. Sie schaute zu Christa hinüber. Das Mädchen saß mit einer Gabel in der Hand da und schlug sie gegen das Glas, schnell und manisch. Es klirrte besorgniserregend.
»Still«, flüsterte sie. »Liebe Christa. Sei still und leg die Gabel hin!«
Er war draußen in der Diele. Er telefonierte. Manchmal lachte er. Sie fragte sich, mit wem er wohl sprach. Wahrscheinlich war es einer seiner Kollegen. Sie stellte den Teller mit dem aufgeschnittenen Schinken auf den Tisch und garnierte ihn mit Tomatenscheiben und Petersilienzweigen. Goss die Soße darüber und würzte alles mit Knoblauchsalz.
»Gleich es ist fertig«, sagte sie mechanisch.
Das Mädchen hatte den Kopf in den Nacken gelegt. Die Pupillen bewegten sich ziellos. Sie hatten versucht, ihr beizubringen, ihren Blick ruhig zu halten, zumindest wenn sie nicht allein war. Doch sie vergaß es immer wieder.
»Jetzt fehlen nur noch die Kartoffeln«, stellte sie fest.
Sie aßen. Ariadne schnitt dem Mädchen den Schinken klein, wie sie es immer getan hatte. Ihr selbst war der Appetit vergangen. Er saß da und beobachtete sie.
»Kleine Raupe, sei vorsichtig«, hatte ihre Mutter sie gewarnt. Mit diesem Kosenamen hatten ihre Eltern sie bedacht, als warteten sie auf den Moment, in dem sie ihre Hülle sprengen und ihre bezaubernden Flügel ausbreiten würde. »Ich kann sehr gut nachvollziehen, was du an dem blonden Fremden findest. Aber, mein Kleines, ich sehe mehr als du. Denn ich bin nicht verliebt.«
Mütter. Was begreifen sie schon?
Er war nahezu fertig ausgebildeter Polizist. Er war mit ein paar Freunden auf ihre Insel gekommen. Sie stand an der Rezeption und sah ihn nach draußen zu dem neu angelegten Pool gehen. Sich an den Rand stellen, bereit, hineinzuspringen. Er trug eine eng anliegende Badehose, und im Licht schimmerten die Haare auf seinem Körper wie ein goldener Schleier.
Das Hotel, in das er gekommen war, betrieben Ariadnes Eltern. Dass er ausgerechnet ihres gewählt hatte, musste doch wohl ein Zeichen sein? Sie saß häufig an der Rezeption. So auch an jenem Abend, als er mit dem Schiff ankam. Sie war es, die seinen Namen in das Gästeverzeichnis eintrug. Tommy Jaglander.
»Do you speak English?«, fragte er, obwohl sie ihn bereits in ebendieser Sprache willkommen geheißen hatte.
»Yes, sir.«
»Then I have to tell you something very important.«
»Ja«, flüsterte sie, plötzlich auf der Hut, was nun wohl kommen würde. Es hatte mit dem Essen zu tun. Er war allergisch gegen millet. So stark allergisch, dass er immer Tabletten und Spritzen bei sich trug. Millet? Was war das? Sie hatte keine Ahnung.
»Ich bin mir keineswegs sicher, dass Sie tatsächlich millet bei der Zubereitung Ihrer Speisen verwenden«, warf er ein. »Doch falls Sie es tun, bitte ich darum, es bei mir wegzulassen. Ansonsten werden Sie nämlich einen toten Touristen am Hals haben.«
Sie holte ein Lexikon, und schließlich bekam sie heraus, was er meinte. Millet war Hirse.
»I thought that millet was food for birds«, entgegnete sie. »Körner, mit denen man Wellensittiche füttert.«
Er lachte so herzlich, dass sie die
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