Der Schatten im Wasser
Goldfüllungen in seinen beiden Backenzähnen sehen konnte.
Sobald er seinen Schlüssel ausgehändigt bekommen hatte und in sein Zimmer gegangen war, schaute sie in seinen Pass. Fünf Jahre älter als sie und im Dezember geboren. Sagittarius. Schütze. Wohnhaft in Stockholm in Schweden.
In der Nacht träumte sie von einem Wesen, das zur einen Hälfte Pferd und zur anderen Mensch war. Es sprengte mit Pfeil und Bogen über den Strand und zielte genau auf sie. Es kam so nahe heran, dass sie förmlich den Sand in ihr Gesicht wirbeln spürte. Ein angenehmes Ziehen fuhr ihren Rücken entlang, und genau in dem Moment erwachte sie mit einem Gefühl von warmer, fließender Milch zwischen den Beinen.
Er reiste ab und kam wieder. Im Laufe eines Jahres war er nicht weniger als dreimal auf ihre Insel und in ihr Hotel zurückgekehrt. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits mehrere schwedische Sätze gelernt. Und er konnte bedeutend mehr sagen als kalimera.
Trotz seines Fremdseins imponierte er ihren Eltern. Er ließ sie schwach werden. Düpierte sie regelrecht, dachte sie im Nachhinein. Auch wenn sie nicht genau wusste, wie. Er zeigte ihnen ja nur eine Seite von sich, die nette, charmante. Die freundliche, höfliche und fröhliche.
Allmählich begannen sie, uralte Regeln über Ehre und Moral zu lockern. Sie gaben ihr frei, nahmen ihr die Arbeit in der Rezeption ab.
»Du kannst etwas frische Luft gebrauchen, kleine Raupe. Nimm dich unseres Gastes aus Schweden an und zeig ihm unsere schöne Insel.«
Als er dann schließlich feierlich um die Hand ihrer einzigen Tochter anhielt, schlossen sie ihn wie ein neues, lieb gewonnenes Familienmitglied in ihr Herz. Sie meinten ihn zu kennen. Er hatte ihnen mittels Gesten und selbst erfundenen Wörtern so viel erzählt. Über sich selbst. Darüber, wie es in Schweden werden würde. Und das in derart überzeugender Weise, dass selbst ihre Mutter kapituliert hatte.
Einige Tage vor der Hochzeit geschah das Unfassbare: Ariadnes Vater erlitt einen Herzinfarkt. Es passierte an einem frühen Morgen, er war gerade dabei aufzustehen, um zur Toilette zu gehen. Seine Frau erwachte von einem ungewohnten Geräusch und warf sich quer über das Doppelbett, um seinen Sturz abzufangen. Doch dabei fielen sie beide zu Boden, wo ihr Körper, ihre Umarmung ihn auffing. Aber es half nichts. Er starb auf dem Steinfußboden in den Armen seiner Frau.
Statt einer Hochzeit stand nun ein Begräbnis an. Ariadne musste ihr schönes weißes Brautkleid weghängen und sich schwarz kleiden. In dieser Zeit war Tommy eine große Stütze für sie alle. Er hielt während der gesamten Beerdigungszeremonie ihre Hand und ließ sie weinen. Er umarmte ihre Mutter und bot ihr an, in Zukunft bei ihnen in Schweden zu wohnen. Wann immer sie wollte. Schon im darauffolgenden Monat. Wenn alles geregelt wäre.
Eine Woche später bestiegen er und Ariadne das Flugzeug nach Arlanda. Während einer kurzfristig einberufenen Zeremonie im Rathaus von Stockholm verwandelte sich das unschuldige griechische Mädchen in Frau Tommy Jaglander. An ihrem Finger steckten zwei einfache Goldringe. Nach der Trauung aßen sie im Stallmästaregården mit Kollegen von Tommy, die in ihren Uniformen als Trauzeugen geladen waren, zu Mittag.
Ariadne hatte sich alles ganz anders gedacht. Sie hatte sich ein fröhliches Fest mit ausgelassener Stimmung und Tanz und Musik bis zum frühen Morgen vorgestellt. Doch nun war es anders gekommen. Und da die ganze Verwandtschaft in Griechenland Trauer trug, war dies die angebrachtere Lösung. Das musste sie wohl oder übel zugeben.
»Deine Mutter kann ja nachkommen«, tröstete Tommy sie. »Sie wird bei uns im neuen Haus wohnen und kann mithelfen, sich um all unsere Kinder zu kümmern.«
Doch die Realität gestaltete sich anders. Während der siebzehn Jahre, in denen Tommy und Ariadne verheiratet waren, hatte die Mutter sie gerade viermal besucht. Zum Teil war es sogar Ariadne selbst, die ihren Besuch ablehnte. Sie hielt es nicht aus, in dem Gesicht ihrer Mutter zu lesen, dass sie es wusste. Dass ihre anfängliche Unruhe weit mehr als berechtigt gewesen war.
In den Monaten, nachdem ihre gemeinsame Tochter geboren worden war, begann Tommy sich zu verändern. Er ließ sie Züge seiner dunklen Seite erahnen, die in totalem Gegensatz zu dem Menschen standen, in den sie sich verliebt hatte. Sie waren zu einem Gespräch mit einer Ärztin im Krankenhaus einbestellt. Etwas mit den Augen des Kindes schien nicht in Ordnung
Weitere Kostenlose Bücher