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Der Schatten im Wasser

Der Schatten im Wasser

Titel: Der Schatten im Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inger Frimansson
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Schlitzen verengt.
    »Komm. Wir fahren jetzt.«

EIN PLÖTZLICHES PFEIFENDES Geräusch ließ sie zusammenzucken und den Atem anhalten. Dann konnte sie etwas erkennen. Die Wolken. Sie glitten auseinander, der Wind zog an ihnen wie an den Vorhängen einer Bühne. Hinter den Wolken kam der Mond hervor. Wie nahe er schien. Sie konnte ganz deutlich die verschiedenen Felder und Krater ausmachen.
    Jetzt konnte sie auch den Garten mit seinem silbrigen Blattwerk und den Schatten erkennen. Sie richtete ihren Blick auf die Voliere. Der Vogel? Nein, er saß da und schlief, weit oben vermutlich, den Kopf unter einen Flügel gesteckt. Sollte nicht auch sie, Justine, sich langsam hinlegen? Es war bereits zwanzig vor eins.
    Sie starrte auf ihre Füße, als bereite sie sich darauf vor, sich in Bewegung zu setzen, langsam ins Schlafzimmer zu gehen, die Decke zurückzuschlagen und in ihre Hälfte des Bettes zu kriechen, neben die leere von Hans Peter. Den Arm hinüberzustrecken, sich das Gefühl seines Rückens, seines starken Rückens, und seiner Lenden ins Bewusstsein zu rufen.
    Doch als sie den Kopf wieder hob, sah sie das Wasser des Mälarsees. Die Oberfläche schimmerte im Licht des gewaltigen Himmels, ein leichtes Kräuseln, als Wind aufkam.
    Nein, durchfuhr es sie, nein, und auf ihrer Oberlippe bildeten sich Schweißtropfen. Sie hob die Hand, strich mit dem Handrücken darüber, heftiger Schrecken und Schmerz.
     
    Sie war mit dem Boot draußen gewesen, wie fast jeden Tag. War einige hundert Meter hinausgerudert, hatte jedoch inzwischen Schwierigkeiten, den Abstand einzuschätzen. Außerdem hatte im Winter alles anders ausgesehen. Selbst die Dunkelheit war eine andere gewesen, irgendwie grauer.
    Wie an allen anderen Tagen hatte sie sich an diesem Vormittag auf den Boden des Bootes gekniet und ins klare Wasser hinuntergespäht. Seegras und Schlingpflanzen, der eine oder andere Fisch. Es war tief hier draußen, wie tief, wusste sie allerdings nicht.
    Tief genug?
    Hans Peter hielt nicht besonders viel von ihren Rudertouren, er behauptete, sie grenzten an Hysterie. Sie hingegen argumentierte, dass sie Kraft tanken müsse. Dass es lebenswichtig für sie sei, die Nähe zum Wasser, diese Art Meditation.
    Mit hochtrabenden Worten hatte sie ihn überredet.
    »Ich empfinde eine Art Ruhe da draußen zwischen Himmel und Wasser. Du darfst mir das niemals nehmen oder versuchen, mich daran zu hindern. Du und ich, wir dürfen uns nicht gegenseitig Zwänge auferlegen. Nie, niemals dürfen wir das tun.«
    »Bist du nicht ein wenig verrückt?« Wie er versuchte zu lachen, ihre Worte ad absurdum zu führen. »Aber wir haben schließlich alle unsere kleinen Marotten.«
    »Verstehst du, das ist wichtig für mich.« Wie sie gurrte und sich klein machte, in seine versöhnende Umarmung kroch. »Genauso wichtig, wie dir deine Bücher sind.«
     
    Damals vor sechseinhalb Jahren war es Spätwinter gewesen. Das Eis war porös und zerbrechlich. Der schlaffe Frauenkörper, der auf dem Schlitten festgebunden war, wurde durch die Steine, die sie in Leinenbeuteln um den Leib der Toten gebunden hatte, noch schwerer. Weit aufs Eis hinaus hatte sie den Schlitten geschoben, so weit, dass sie beinahe eingebrochen wäre. Eine letzte Kraftanstrengung, ein Stoß, die Hände ließen die Holzgriffe los, und mit einem hohlen Blubbern senkte sich die Spitze des Schlittens ab, und er glitt geradewegs über die Eiskante in die Tiefe.

DER FLUGHAFEN LAG WIE in die Natur hineingeworfen. Um dorthin zu gelangen, mussten sie verschlungene kleine Sträßchen entlang und schließlich über einen Hügel mit einem Bauernhof und muhenden Kreaturen fahren. Die Autoreifen waren vom Schlamm und den vielen Kuhfladen ganz verschmiert. Sie parkten vor dem Flughafengebäude.
    »Das muss ausgerechnet uns passieren, die wir die ganze Woche so vorsichtig durchs Gelände gefahren sind«, seufzte Jill. »Jetzt ist das Auto völlig eingesaut. Was werden die von der Autovermietung nur von uns denken!«
    »Ach, damit müssen sie leben.« Tor hob ihre Taschen aus dem Kofferraum und ging los. Es war an der Zeit, die Heimreise anzutreten. Die Ferien waren vorbei. Er hatte angenommen, dass er Erleichterung empfinden oder es ihm zumindest egal sein würde. Zu seiner Verwunderung fühlte es sich aber nicht so an.
    Die Wartehalle war leer. Würden Jill und er die einzigen Passagiere auf dem Flug nach Bodo sein? Würde etwa eine ganze Maschine nur für sie starten? Sie checkten ein und warfen die

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