Der Schatten im Wasser
zu sein. Christa lag in ihrem Kindersitz und schlief. Sie hatte die ganze Nacht zuvor geschrien und war jetzt erschöpft und still.
Die Ärztin hieß Doktor Nowakowska. Sie kam aus einem osteuropäischen Land, was sowohl durch ihren Namen als auch ihren Akzent offenbar wurde. Tommy regte sich im Nachhinein darüber auf, dass es kein schwedischer Experte gewesen war. War ihre Tochter nicht etwas Besseres wert gewesen? Warum mussten ausgerechnet sie mit einem weiblichen Scharlatan aus Osteuropa vorlieb nehmen?
Doktor Nowakowskas Hände waren kalt. Sie lächelte in Richtung Kindersitz.
»Sie haben wirklich ein reizendes kleines Mädchen bekommen. Wie süß und so hübsch mit diesen dunklen Wimpern.«
Sie griff nach einem Stapel Papier und blätterte schweigend darin. Auf der Fensterbank stand ein Plastikstorch mit einem kleinen Bündel im Schnabel. Aus dem Bündel lugte ein hellblonder Haarschopf hervor.
Sie warteten. Christa gab ein Wimmern von sich und verlor ihren Schnuller. Ariadne schob ihn ihr wieder in den Mund und brachte sie dazu, wieder einzuschlafen.
Doktor Nowakowska rückte ihre Brille zurecht. Sie räusperte sich.
»Wie Sie sich vielleicht schon gedacht haben, ist etwas schiefgelaufen.«
Genau den Ausdruck benutzte sie, es ist etwas schiefgelaufen.
Wie kann etwas schieflaufen? Das Kind liegt doch geschützt im Leib seiner Mutter. Und der Körper einer Frau ist geradezu dafür geschaffen, mit einem besonderen kleinen Raum. Ein schützender und Geborgenheit spendender Raum, in dem der Embryo zum Fötus heranwachsen kann. Und vom Fötus weiter zum Kind.
»Wir haben sie untersucht«, fuhr Doktor Nowakowska fort. Um ihren Hals hing eine Kette mit einem kleinen Kreuz, das hin und her schaukelte, wenn sie sich bewegte. »Leider können wir nicht viel machen. Im Klartext heißt das. dass Ihre Tochter niemals sehen können wird.«
In dem Moment war Tommy böse geworden. War von seinem Stuhl aufgesprungen und hatte sich, auf seine Fingerknöchel gestützt, über den Tisch gebeugt. Die Knöchel erschienen ihr plötzlich enorm groß, was ihr nie zuvor aufgefallen war.
»Was haben Sie mit ihr gemacht!« Seine Stimme war dumpf und grollend, sie kam aus der Kehle wie bei einem Tier.
Doktor Nowakowska wich zurück. Das hier gehörte zu den schwersten Aufgaben überhaupt, nämlich einen Bescheid über eine Behinderung oder gar einen Todesbescheid zu übermitteln. Sie hatten es während ihrer Ausbildung geübt, in einem Rollenspiel an einem Nachmittag. Doch damals war es ihr vorgekommen wie ein Theaterspiel.
»Lieber Herr Jaglander, als Ärzte und Experten haben wir alles getan, was in unserer Macht steht. Aber die Behinderung Ihrer kleinen Christa ist angeboren. Sie ist bereits im Mutterleib entstanden.«
Er erfasste ihre Botschaft nicht. Jedenfalls nicht sofort.
»Meine Frau ist regelmäßig zu Kontrolluntersuchungen gegangen. Da hätten Sie es doch feststellen müssen! Wofür sonst gibt es denn Vorsorgeuntersuchungen? Sind sie nicht da, um zu kontrollieren, dass die Schwangerschaft komplikationslos verläuft?«
»Ja, doch. Natürlich. Und Schweden liegt weit vorn, was diesen Bereich betrifft. Aber alles kann man dennoch nicht feststellen.«
»Dann sind Sie wohl nicht aufmerksam genug gewesen. Sagen Sie doch, wie es ist. Sie haben gepfuscht.«
»Aber Tommy …« Ariadne griff nach seinem Handgelenk, das sich wie ein Stück Granit anfühlte. Er fuhr herum, und sein Mund glich einem schmalen Strich.
»Nun halte du auch noch zu ihr!«
»Nein … aber …«
Er sah sie streng an, ließ seinen Blick tief in ihre Augen dringen, regelrecht unter die Haut gehen.
»Und dennoch kann das Leben natürlich schön werden«, hob Doktor Nowakowska an, sichtbar mitgenommen von der Reaktion des frischgebackenen Vaters. »Diese Sache muss noch lange nicht in eine Katastrophe münden. Ich kenne viele, die … Es gibt Hilfsmittel und Spezialunterricht … wenn die kleine Christa dann größer ist. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen auch die Telefonnummer von Eltern in ähnlichen Situationen geben.«
Tommy stand schon neben dem Kindersitz. Er riss den Griff an sich und hob ihn so ruckartig hoch, dass Christa aufwachte und zu schreien begann. In der Tür blieb er stehen.
»Ich verlange, mit einem Experten zu sprechen.«
Die Ärztin lachte nervös.
»Das haben Sie gerade getan. Sie haben mit mir gesprochen, und ich bin eine solche Expertin, die Sie sprechen möchten.«
Er wandte sich Ariadne zu, die Augen zu schmalen
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