Der Schatten im Wasser
Autoschlüssel in eine dafür vorgesehene Box an der Wand. Von dort würde das Personal der Autovermietung sie abholen.
»Unser kleines Auto«, sagte Jill wehmütig und schaute hinaus auf den nahezu leeren Parkplatz. »Ich habe es richtig lieb gewonnen.«
Sie zog dabei die Mundwinkel herab und verstellte ihre Stimme auf diese kindliche Art, wie Frauen es manchmal tun. Berit war genauso gewesen, zumindest zu Beginn ihrer Bekanntschaft. Es war ihm nur entfallen. Alles schien so weit weg. Sein gesamtes Leben.
Sie setzten sich auf ein Sofa und warteten. Hinter dem Tresen einer Cafeteria klapperte ein schläfriger Teenager mit Geschirr. Es roch bitter, nach heißem, abgestandenem Kaffee. Von dem Flugzeug, das laut Flugplan in einer halben Stunde starten sollte, war noch nichts zu sehen. Ein paar hundert Meter entfernt lag ein Friedhof mit weißen Kreuzen und Grabsteinen, der Tor ebenfalls wie in die Natur hineingeworfen erschien.
So ganz anders als zu Hause, dachte er. Wir haben unsere vertrauten und gepflegten Friedhöfe, die wir aufsuchen können, um uns zu erinnern. Allerheiligen mit Fackeln und dem Duft nach Moos und Feuer. Fröstelnde Menschen in kleinen Gruppen, die dicht zusammenstehen, um sich zu wärmen und der Musik aus den Hörnern der Heilsarmee zu lauschen. Ein dichter, nebliger Regen verwandelt sie in Schatten, verwischt ihre Gesichtszüge. Warum regnet es eigentlich immer an Allerheiligen? War es vielleicht so, wie seine Großmutter zu sagen pflegte, dass »es die Engel sind, die mit uns Lebenden weinen«?
Er wies in Richtung der Grabsteine.
»Sonderbarer Platz für einen Friedhof, nicht? Direkt neben der Landebahn.«
»Aber wie du dir vorstellen kannst, klagen die Toten hier nicht über die Ruhestörung«, wandte Jill ein, die in einer Broschüre des Flugunternehmens blätterte.
»Na ja, Ruhestörung ist gut.«
Sie blinzelte ihm zu, die Haut auf ihrem Nasenrücken kräuselte sich. Dann las sie laut in holprigem Norwegisch vor:
»Ruhestörung ist das Umweltthema, das die Bevölkerung in der Nähe der Flughäfen am meisten beschäftigt.«
»Es geht also um den Fluglärm?«
»Genau. Sie schreiben: Wenn die Geräusche unerträglich sind, werden sie stoj, also Lärm oder Ruhestörung genannt. Deswegen haben sie den Flughafen hier draußen zwischen Schafherden und Toten angelegt.«
Er verdrehte unwillkürlich die Augen. Das wiederum spornte sie an, weiterzulesen.
»Aber hör zu, lass dich beruhigen. Die Zielsetzung der Regierung ist, dass die Ruhestörung, berechnet in RSI. also dem Ruhestörungsindex, innerhalb des Zeitraums von 1999 bis 2010 um 25 Prozent reduziert werden soll.«
»Na großartig.«
Sie schwieg. Rutschte auf dem Sofa ein wenig näher an ihn heran.
»Alles okay?«
»Ja.«
»Bist du zufrieden mit unserer Reise?«
»Gewiss. Gewiss bin ich das.«
»Du bereust es also nicht, dass du dich hast überreden lassen?«
Er schnaubte kurz. »Nein.«
»Obwohl du die Wale nicht gesehen hast? Das war schon ein großartiges Erlebnis.«
»Ich weiß«, erwiderte er trocken.
Jill öffnete ihre Umhängetasche und zog ein Paket hervor. An ihrem Hals hatten sich rote Flecken gebildet.
»Bitte sehr.«
»Für mich?«
»Ja.«
»Wofür denn?«
»Als Erinnerung. Und als Dankeschön dafür, dass du mich auf dieser Reise begleitet hast.«
»Ich danke dir auch.« Es klang wie eine Floskel, er merkte es selbst.
Er blieb sitzen und begutachtete das Paket in seinen Händen. Rechteckig und fest. Ein Buch, höchstwahrscheinlich. Sie hatte ihm ein Buch gekauft.
»Soll ich es öffnen?«
»Wenn du magst.«
Es war in der Tat ein Buch. Ein Bildband. Der Umschlag war in Blautönen gehalten. Meer, Himmel, Bergkämme. Inmitten dieses Blaus zeichnete sich ein Hurtigroutenschiff ab. Rot, weiß und schwarz, von oben fotografiert. Er blätterte.
»Die Fotos waren so schön, dass ich dachte … Ich konnte es einfach nicht wieder aus der Hand legen.«
»Danke, Jill.«
»Es sind auch Bilder von Walen drin. Pottwale. Es muss ja keiner erfahren, dass du sie nicht in natura gesehen hast. Immerhin warst du ihnen nahe. Nur ein paar Meter entfernt, im Prinzip. Jetzt kannst du sie deinen Bekannten jedenfalls beschreiben.«
Meinen Bekannten, dachte er. Wem denn?
Sie hatten vor langer Zeit einmal Freunde gehabt. Als alles noch so war, wie sie dachten, dass es auch bleiben würde. Sie trafen sich mit anderen Paaren, luden zum Essen ein, feierten gemeinsam Mittsommer. Doch er hatte sich nie richtig als Teil der
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