Der Schatten im Wasser
Stromausfall erleiden. Darüber hinaus musste auf andere Schiffe Rücksicht genommen werden. Sie konnten einander durchaus nicht an jeder beliebigen Stelle passieren.
Jill und ihre Kollegen wurden dazu angehalten, soweit es ihre Zeit zuließ, die Lotsen bei ihren Aufträgen zu begleiten, um einen besseren Einblick in ihre und damit auch die eigene Arbeit zu erhalten. Doch das musste natürlich in der Freizeit geschehen. Jill war ein paar Mal mitgefahren, als sie noch neu im Team und ziemlich enthusiastisch war. Sie hatte zum Beispiel Billy Anderberg auf einer Lotsenfahrt von Köping nach Södertälje begleitet. Während dieser Fahrt war ihr klar geworden, dass er tatsächlich den gesamten Mälarsee auf einer imaginären Seekarte in seinem Gehirn gespeichert hatte. Die Nacht war klar und kühl mit einem hell leuchtenden Vollmond. Sie saßen hoch oben im Dunkel der Kommandobrücke.
»Weißt du was?«, fragte er, während er über das Wasser schaute.
»Nein.« Sie wurde plötzlich unruhig, hatte Angst, dass er etwas Persönliches sagen würde, etwas, das mit ihr zu tun hatte und sie zwingen würde, ihn zu verletzen. Doch das tat er nicht.
»Siehst du den Mond dort stehen, er ist nur halb zu sehen …«, begann er zu singen, brach dann jedoch ab und wurde ernst. »Weißt du eigentlich, dass der Mond der beste Freund des Seemanns ist?«
Sie lachte sanft. Es klang poetisch, wie ein Satz aus einem kleinen Geschenkbuch. Sie wusste, dass er schrieb, in der Hosentasche trug er sein weiches schwarzes Büchlein immer bei sich. Einmal hatte er sie darin lesen lassen. Erst war es ihr peinlich, denn wie konnte ausgerechnet sie Lyrik beurteilen? Doch zu ihrer Erleichterung gefiel es ihr sofort.
»Du bist ein Poet, Billy, das hier ist richtig gut! Schick es an einen Verlag!«
Er machte mit den Händen eine abwehrende Geste.
»Nein, nein, das ist nur für den Hausgebrauch und für die eine oder andere Freundin bestimmt. Reine Therapie. Denn nachts kann es manchmal ziemlich einsam sein.«
Sie gab sich nicht geschlagen.
»Aber im Ernst, ich kenne einen Verlag. Erinnerst du dich an Berit, meine beste Freundin, von der ich dir erzählt habe? Die verschwunden ist. Bei ihr im Verlag hat eine Frau gearbeitet, die inzwischen zu Blattgold gewechselt ist. Sie geben Gedichte heraus, das weiß ich. Wenn du möchtest, kann ich ihr zeigen, was du geschrieben hast. Es ist in jedem Fall einen Versuch wert.«
»Blattgold«, wiederholte er ironisch.
»Ja, wieso?«
»Äh, das klingt so …«
»Erinnerst du dich an Tobias Elmkvist, den Schriftsteller? Den aus Södertälje. Seine Bücher sind auch im Blattgold-Verlag erschienen. Ich besitze übrigens eine Gedichtsammlung von ihm, ich kann sie dir leihen, wenn du willst.«
»Tobias Elmkvist? War das nicht der, der …«
»Doch. Er hatte irgendwo in Östergötland aus Versehen einen Typen umgebracht. Aber man kann ja wohl dennoch ein guter Dichter sein.«
»Aus Versehen«, wiederholte Billy ironisch. Danach hatte sich das Gespräch mehr um ethische Fragen im Hinblick auf Schuld und Moral gedreht. Und Billy behielt sein schwarzes Buch.
Jill schaute aus dem Fenster. Das Wasser lag unbeweglich da, spiegelglatt. Auf der Brücke war der morgendliche Verkehr in vollem Gange. Sie sah einen Bus mit Schulkindern, die auf dem Weg zum Sydpool waren, um gemeinsam mit ihren Lehrern zu baden. Oh, nein, dachte sie, die Verantwortung für eine Meute wilder Teenager in Badeklamotten zu tragen! Nein, der Lehrerberuf hatte sie nie gereizt, auch wenn ihre Mutter Lehrerin gewesen war. Oder vielleicht gerade deswegen. Eigentlich hatte sie Journalistin werden wollen, und tatsächlich hatte sie auch einige Kurse auf der Journalistenschule Poppius besucht. Doch das Ganze scheiterte daran, dass sie keinen Job bekam. Die finanziellen Aussichten schienen ihr zu unsicher. Einige Jahre lang versuchte sie sich dann als freie Journalistin, musste jedoch schließlich einsehen, dass sie sich nicht besonders gut verkaufen konnte.
Aus purem Zufall landete sie bei einem Sanitärbetrieb. Ihre Eltern hatten eines Tages beschlossen, Waschbecken und Toilette in ihrem alten, renovierungsbedürftigen Badezimmer auszutauschen. Sie beauftragten also Haglunds Rör, und einer der Installateure, der kam, war Pelle Johansson. Und es kam, wie es kommen musste. Sie wurden ein Paar, jedoch ohne zusammenzuziehen. Kinder bekamen sie auch keine. Was Jill lange Zeit später als Glück betrachtete. Wir hätten keine guten Eltern abgegeben.
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