Der Schatten im Wasser
Wir waren viel zu verschieden.
Als Jill noch ziemlich jung gewesen war, wurde sie einmal schwanger. Es geschah aus Versehen. Sie kannte den Typen nicht, es passierte auf einem Fest, und sie hatten beide ziemlich viel getrunken. Sie erinnerte sich noch an die qualvollen Gespräche mit einem Seelsorger vor der Abtreibung. Zu der Zeit war eine Abtreibung nämlich noch keine Selbstverständlichkeit. Hinzu kam noch, dass man ihr während des Eingriffs nicht genügend Betäubungsmittel gab. Als wollte man sie bestrafen. Als sei sie unartig gewesen und hätte etwas Unanständiges getan, für das sie nun die Konsequenzen tragen musste. Sie war damals immerhin 20 Jahre alt. Das Kind wäre heute über 30 gewesen. Möglicherweise wäre es selbst schon Mutter oder Vater geworden und hätte sie damit zur Großmutter gemacht. Ein sonderbarer und manchmal etwas wehmütiger Gedanke.
Sie hob den Blick. Auf dem Kai stand ein älterer Mann in braunen Hosen und einem Hemd in ähnlicher Farbe. Sein Reißverschluss war offen. Er stand da und pinkelte direkt in den Kanal.
»Schöner Ausblick«, kommentierte sie bissig.
»Ja, dann schau doch weg«, konterte Nisse.
»So etwas bleibt uns zukünftig jedenfalls erspart«, kam es unwirsch von Fred. »Sobald der Schutzzaun hochgezogen ist. Dann werden wir vollkommen isoliert sein. Verdammt, dieser dämliche Bush, das Ganze ist seine Schuld, was hat er auch im Irak zu suchen.«
Der geplante Zaun war eine Folge der neuen internationalen Sicherheitsvorschriften im Hinblick auf Terroristen, die nach dem 11. September 2001 in Kraft getreten waren. Nach diesen Bestimmungen mussten alle Hafengebiete abgeschlossen und geschützt werden, selbst so unbedeutende wie die Schleuse von Södertälje. An verschiedenen Stellen war der Zaun schon fertig. Die Lotsen murrten natürlich, da es für sie nun viel komplizierter wurde, an Bord der Schiffe zu gelangen.
Der pinkelnde Mann richtete sich auf und machte ein paar unbeholfene Schritte.
»Dass er nur nicht hineinfällt«, bemerkte Jill. So etwas passierte manchmal. Vor einigen Jahren hatten die Kollegen während einer Schicht beobachtet, wie ein Mann ins Wasser fiel, und obwohl sie nach draußen gerannt waren und versucht hatten, ihn herauszuziehen, war es zu spät. Er ertrank direkt vor ihren Augen. Später stellte sich heraus, dass es ausgerechnet sein Geburtstag gewesen war.
»Tja, von diesem Wasser möchte ich nicht einmal einen Schluck nehmen«, meinte Fred sarkastisch. »Die ganze Scheiße, die sich darin befindet. Obwohl es früher, als alle Abwässer noch direkt in den Kanal geleitet wurden, natürlich viel schlimmer war. Man denke nur an das Krankenhaus. Das muss nicht gerade witzig gewesen sein.«
Jill griff nach dem Fernglas. Der Mann hatte seinen Reißverschluss wieder hochgezogen und war dabei, sich auf wackeligen Füßen in Richtung des nördlichen Schleusentors zu bewegen, wo es einen Fußgängerüberweg gab. Betreten auf ei gene Gefahr, stand dort auf einem Schild. Mit gewissen Schwierigkeiten stieg er die schmale Passage hinab und balancierte hinüber. Sie folgte seinen Schritten durchs Fernglas. In dem Moment entdeckte sie, dass der Eisschutz am westlichen Schleusentor fehlte.
»Aber seht nur!«, rief sie. »Wen rufen wir am besten an?«
Fred nahm einen Schluck Kaffee.
»Entspann dich, meine Liebe. Sie haben ihn gestern entfernt, er wird repariert.«
»Und woher weißt du das?«
»Ich habe Überstunden gemacht.«
Er setzte sich auf den Stuhl neben Nisse, und die beiden gingen zusammen die Liste der einsetzbaren Lotsen durch. Trotz seiner Sonnenbräune wirkte Fred irgendwie gestresst. Jill wusste, dass er Probleme zu Hause hatte. Seine Frau wollte sich scheiden lassen, wohnte aber zur Zeit noch in der gemeinsamen Villa in Pershagen. An bestimmten Tagen gingen sie zur Familientherapie, wonach er jedes Mal mit einem verbissenen Gesichtsausdruck zur Arbeit kam und ziemlich kurz angebunden war. Der Anblick ihrer beiden Kollegen Seite an Seite vor dem Bildschirm erfüllte sie mit Zärtlichkeit.
Wie eine alte, vertraute Familie, dachte sie. So sind wir. Weihnachtsabende und Silvester, Freude und Trauer, alles erleben wir gemeinsam. Wir kennen einander in- und auswendig. Und wir respektieren einander mit unseren Stärken und Schwächen.
Sie stand auf und streckte sich. Nisse schaute hoch.
»Kannst du nachfragen, ob die Fagervik tatsächlich um 11.30 Uhr in Landsort einläuft?«
Sie war eigentlich auf dem Weg zur Toilette gewesen.
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