Der Schatten im Wasser
Jetzt sank sie zurück in ihren Sessel und rief über Funk:
»Fagervik, Fagervik. Södertälje VTS, Kanal 16.«
Keine Antwort.
»Ich versuche es stattdessen auf dem Västerviksender«, entschied sie. »Oder dem Visbysender, den müsste er in jedem Fall hören.«
Schließlich erhielt sie Kontakt und erfuhr, dass sowohl Zeit als auch Position stimmten.
Ihr Schlafmangel begann sich langsam bemerkbar zu machen. Sie fühlte sich hohl und ausgelaugt, und ihre Augen brannten. Wie durch einen Nebel hindurch hörte sie Nisse einen der Lotsen anfunken.
»Hallo, Jacobsson. Ich hatte vor, dich nach Landsort zu schicken und die Fagervik zu holen. Okay. Klar. Du, es gibt ziemlich viel zu tun. Ich dachte eigentlich daran, dir einen Doppelauftrag zu geben, nämlich dann gegen 19 Uhr die Seawaal herauszulotsen. Was meinst du dazu?«
Seawaal, dachte sie und war mit einem Mal wieder an Bord der M/S Leonora, dem Fischerboot, das sie zu den Walen hinausgebracht hatte. Tor. Ihr Abschied letzte Nacht war so abrupt gewesen, denn sie hatte sich beeilen müssen, um ihren Zug noch zu erwischen.
»Danke für deine Gesellschaft«, hatte er ihr nachgerufen. »Wir hören voneinander.«
Sie stand auf und stieg die Wendeltreppe hinunter, ging zur Toilette und stand eine Weile vor dem Spiegel, wo sie ihr käsiges Gesicht betrachtete. Von neuem stiegen ihr die Tränen in die Augen und hielten sich dort einen Moment, bevor sie die Wangen hinabrannen. Dann blieben sie kurz am Kinn hängen, fielen schließlich herab und wurden vom Pullover aufgesaugt.
»Was ist nur mit dir?«, zischte sie erbost. »Ist es das Klimakterium, oder was beschäftigt dich so?«
Sie riss ein Stück Toilettenpapier ab und schnäuzte sich. Dann ging sie wieder nach oben in den Turm.
DAS SCHLIMMSTE WAR, dass es keinen richtigen Abschied gegeben hatte. Micke hatte die Wohnung seines Vaters im Zorn verlassen. Das war der Grund, dass er alles als so unabgeschlossen empfand. Er hatte erwartet, dass Nathan ihn anrufen würde, den ganzen Abend hatte er auf diesen Anruf gewartet. Doch er rief nicht an. jetzt, einige Jahre später, konnte Micke halbwegs verstehen, dass er vollkommen damit beschäftigt gewesen war zu packen. Er trug schließlich die gesamte Verantwortung für eine lange und anspruchsvolle Reise. Und dennoch. Ein kurzes Telefonat hätte er doch wenigstens einschieben können. Nur, um die Lage zu checken.
Es war der Tag vor der Abreise. Micke war mit der U-Bahn zu ihm gefahren. Nathan wohnte in einer Zweizimmerwohnung in der Norrtullsgata. Zentral und vom Feinsten. Er besaß nicht gerade viele Möbel, aber was spielte das schon für eine Rolle. Mickes Zwillingsschwestern durften in die Wohnung einziehen, solange ihr Vater unterwegs war. Micke selbst war nicht gefragt worden. Das störte ihn zwar, doch gleichzeitig sah er ein, dass es logisch war, wenn die Schwestern dort wohnten, sie waren immerhin einige Jahre älter. Aber es wäre cool gewesen, ganz bestimmt. Einen Monat sein eigener Herr zu sein. Sich Nettans Adlerblick zu entziehen.
Nathan öffnete in Kakishorts und T-Shirt. Er war kleiner als Micke, aber kräftiger, mit strammen Waden und prallem Bizeps. Im Keller seines Hauses befand sich ein Fitnessstudio.
»Hallo, Micke. Komm rein!«
Auf seinem Kopf saß eine Art Cowboyhut.
»Wie findest du ihn?« Nathan streckte sich und machte eine Geste in Richtung Hutkrempe.
»Ziemlich übel.«
»Du weißt, man muss sich gegen die Sonne schützen. Und gegen all die verdammten Moskitos.«
»Ja.« In seinem Hals bildete sich ein Kloß.
»Und wie geht es meinem Jungen?« Der Vater legte den Arm um seine Schultern und führte ihn ins Wohnzimmer. Ein altmodischer Militärrucksack stand gegen das Sofa gelehnt. Auf dem Tisch lagen Plastikbeutel mit Unterwäsche und T-Shirts, ein Bund Flugtickets und ein Pass.
»Ich bin gerade dabei zu packen, wie du siehst. Ich nehme nur diesen Rucksack hier mit. Nicht mehr. Man braucht nicht so viel im Dschungel. Und was ich noch brauche, kann ich vor Ort kaufen. Den Parang zum Beispiel.«
»Was ist das?«
»Ein Messer. Verdammt scharf und effektiv. Stell dir vor, so etwas in einem Rucksack zu schmuggeln. Das Nationale Einsatzkommando würde in Null Komma nichts ausrücken. Das wäre nicht ganz so klug, oder?«
»Nee.«
»Außerdem sind sie billiger dort. In Jerantut.«
»Jerantut?«
»Ein kleines Nest. Von dort werden wir starten.«
»Man braucht also ein solches Messer … Pa … Parang?«
Nathan grinste.
»Die
Weitere Kostenlose Bücher