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Der Schatten im Wasser

Der Schatten im Wasser

Titel: Der Schatten im Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inger Frimansson
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Abgründen. Er hatte versucht, sie zu überreden, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Aber wenn sie besonders deprimiert war, hatte sie große Schwierigkeiten, auf ihn zu hören. Und wenn sie wieder fröhlich und stärker war, gab es für sie keinen Grund mehr, Kontakt mit einem Psychologen aufzunehmen.
    Es war wie das Zusammenleben mit einem Alkoholiker, dachte er. Und irgendwo tief in seinem Inneren empfand er eine Erleichterung darüber, dass er diesen Job hatte, denn er ermöglichte es ihm, zwischendurch Atem zu holen.

EIN RASCHELNDES GERÄUSCH im Laubwerk. Irgendetwas. Irgendjemand.
    Unendlich langsam war sie hinaus auf den Balkon gegangen. Stand dort mit nackten Füßen, lehnte sich über das Geländer, strich sich das Haar auf der einen Seite hinters Ohr. Ein deutlich hörbares Geräusch irgendwo da draußen, ein Zweig, der knackte, zerbrach. Und dann ein entsetzlicher Schrei des Vogels. Justine hatte ihn nie zuvor so schreien hören.
    Sie öffnete den Mund und rief geradewegs in die Dunkelheit:
    »Hallo! Ist da jemand?«
    Sie riss die Augen weit auf und versuchte, den gesamten Garten zu überschauen. Rief erneut:
    »Wer ist da? Wenn Sie etwas von mir wollen, so zeigen Sie sich doch.«
    Sie hörte den Vogel zischen und kleine Piepser ausstoßen. Das Flattern seiner Flügel, die er sich wund schlug, am Maschendraht blutig scheuerte. Vögel neigen dazu, von Panik erfasst zu werden, oftmals allerdings eher in Scharen, wo sie von der Angst ihrer Artgenossen angesteckt werden, aber eben auch allein. Panikartiges Verhalten liegt in ihrer Natur, wie bei allen Herdentieren, wie zum Beispiel auch bei Pferden oder in der Savanne äsenden Gazellen. Ihr Instinkt treibt sie zur besinnungslosen Flucht. Sie musste den Vogel also irgendwie beruhigen.
    »Ich komme!«, rief sie und erschrak vor den Spiegelungen des Mondes im Wasser, plötzlich war es, als blendeten sie sie.
    Sie verließ den Balkon und ging ins Schlafzimmer, zog eine lange Hose und einen Pulli an, kniete sich vor den Kleiderschrank und riss alles heraus, was sich in den Schubladen befand. Endlich, da war das Halstuch, dasselbe, das sie damals benutzt hatte, um den Vogel zu sich zu holen. Der vorherige Besitzer hatte vorgeschlagen, ihm vor dem Transport die Flügel zu stutzen, damit er sich nicht verletzte, falls er erschrecken sollte. Doch Justine hatte es abgelehnt. In einer plötzlichen Eingebung hatte sie das Halstuch ergriffen, das sie getragen hatte, und es vorsichtig um den Vogel gewickelt. Der dünne Stoff um seine Federn hatte ihn beruhigt.
    Sie griff nach ihrer Handtasche und versicherte sich, dass sowohl die Haus- als auch die Autoschlüssel darin lagen. Dann machte sie in allen Zimmern Licht, und bevor sie die Haustür öffnete, schnappte sie sich ihren Regenschirm und hielt ihn mit der Spitze nach vorn.
    Es war windstill. Sie stellte sich auf den Treppenabsatz vor dem Haus und horchte. Auch wenn sie nichts hören konnte, war sie sicher, dass sich da draußen jemand befand. Diese Gewissheit ließ sie den Atem anhalten. Auf ihrem Rücken fühlte es sich an, als stünden all die kleinen Härchen zu Berge.
    »Ich komme ja schon«, versuchte sie zu rufen, doch es geriet mehr zu einem Krächzen, »ich komme und hole dich.«
    Das Gras war buschig und feucht. Sie musste an die Schnecken denken, die braunen länglichen Schnecken, daran, dass sie sie mit ihren Füßen berühren würde, und schauderte vor Ekel. Normalerweise tötete sie sie, schnitt sie mitten entzwei, allerdings im Hellen, wenn sie sich sicher fühlte. Decapito, schoss es ihr durch den Kopf, caput ist lateinisch und bedeutet Kopf. Ein ziehender Schwindel in der Magengegend, als müsse sie sich übergeben.
    Die Schuhe, sie musste etwas über die Füße streifen, sie schützen, man ist so schutzlos ohne Schuhe. Mit zitternden Händen gelang es ihr, die Tür wieder aufzuschließen, und dort drinnen standen auch ihre Sandalen, ihre bequemen, gut eingelaufenen Sommerschuhe. Sie schlüpfte mit den Füßen hinein und schnallte die Riemchen fest. Als sie sich wieder zum Garten umdrehte, erahnte sie eine Bewegung den Berg hinauf, begleitet vom Knirschen sich entfernender Schritte im Kies. Keineswegs fliehend, sondern eher entschlossen. Jemand hatte sich in ihrem Garten aufgehalten, sich aber dann entschieden, ihn wieder zu verlassen.
    Das Schwindelgefühl nahm zu.
     
    Der Vogel flatterte, wahnsinnig vor Angst, blindlings in seiner Voliere umher. Als er sie kommen hörte, ließ er sich plump zu

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