Der Schatten im Wasser
Boden fallen und blieb mit offenem Schnabel dort hocken. Im Mondlicht konnte sie seine Augen wild funkeln sehen.
»Ich bin es doch«, murmelte sie und wünschte sich mit einem Mal, dass der Vogel einen Namen hätte, denn dann wäre es leichter gewesen, ihm etwas vorzusummen und ihn zu beruhigen. Sie hatte damals vergessen, den Vorbesitzer danach zu fragen, und dabei war es geblieben. Sie selbst hatte sich nicht in der Lage gesehen, einen passenden Namen zu finden. Damals waren sie ja auch nur zu zweit gewesen, der Vogel und sie. Da hatte es keinen Anlass für irgendwelche Ängste gegeben. Mit zittrigen Fingern schaffte sie es, die Tür zur Voliere zu öffnen, und ging in die Hocke. Strich mit ihrem Zeigefinger über den glatten Vogelkopf, doch er sperrte den Schnabel nur noch weiter auf und zischte. Erst nach einer Weile schien er zu merken, dass sie es war. Da entspannte er sich und sank in sich zusammen.
Als sie ihn hochhob, lief ihr warmer Vogelkot über die Arme, die Angst hatte sich auf seine Verdauung geschlagen. Sie saß im Gras und ließ ihn an ihrem Halstuch riechen, dem dünnen hellen Tuch, in dem er damals wie in einem Kokon oder einer Fruchtblase zu ihr nach Hause transportiert worden war. Vorsichtig wickelte sie das Tuch um die durcheinander geratenen Federn und hielt ihn wie ein Baby an die Brust gedrückt. Er lag dort mit halb geschlossenen Augen, und sein Herz pochte wild.
»Jetzt fahren wir«, flüsterte sie. »Dann sind wir nicht mehr allein.«
Sie hielt ihn mit dem einen Arm fest und griff mit dem anderen nach dem Regenschirm, den sie wie eine Lanze nach vorn richtete. Hinter ihr glitzerte das Wasser des Mälarsees wie kleine, silbrige Messer, der Wind frischte etwas auf, und es roch nach Schlamm.
Sie ging in Richtung Auto, hatte erneut das Gefühl, einen Schatten wahrzunehmen, eine Gestalt, die hinter den Fliederbüschen hockte, und erschrak so heftig, dass sie sich in die Wange biss. Der Geschmack von Eisen und etwas Dickflüssigem auf der Zunge. Die Tasche über der Schulter, der Riemen glitt herunter, sie verlor kurz das Gleichgewicht, als sie ihn wieder hochzog, klemmte dann den Regenschirm unter den Arm und schob die Finger in die Tasche. Dort fand sie die Autoschlüssel, drückte den Daumen auf die Fernbedienung, klick, klick. Sie öffnete die Tür, setzte den Vogel auf den Beifahrersitz, legte den Regenschirm ab und sank hinters Steuer. Erst als der Motor startete, kam sie wieder zu Kräften.
Es war zehn Minuten nach zwei in der Nacht. Sie fuhr den Sandviksväg hinauf und bog nach rechts ab auf den Lövstaväg. In allen Häusern war es dunkel. Sie schaltete das Fernlicht ein und fuhr schneller. Der Vogel lag auf der Seite. Sein Schnabel war halb geöffnet. Er starrte sie mit einem runden Auge an, war aber inzwischen still geworden, hatte sich beruhigt. Auf der Gegenfahrbahn kam ihr das eine oder andere Taxi entgegen, ansonsten waren die Straßen leer. Vielleicht hätte sie Hans Peter lieber anrufen und vorwarnen sollen. Na ja, jetzt war es ohnehin zu spät. Sie würde gleich dort sein.
Am Tegnérlund ergatterte sie eine Parklücke zwischen einem Jeep und einem alten VW-Käfer. Sie war winzig, aber es gelang ihr dennoch, das Auto irgendwie hineinzubugsieren. Justine war gefasst und kühl. Sie hob den Vogel hoch und hielt ihn vor ihren Bauch. Blies auf seinen Kopf und murmelte ihm tröstende Worte zu. Er stieß einige kleine, erstickte Laute aus, wirkte aber nicht länger verängstigt. Den Regenschirm ließ sie im Auto liegen.
Hans Peter öffnete sofort. Er hatte also noch nicht geschlafen. Sein Gesicht war blass und angespannt.
»Hallo«, begrüßte sie ihn. »Ich bin einfach hergefahren.«
Er trat einen Schritt zurück, als würde er sie nicht wiedererkennen.
»Hallo …?«
»Hans Peter!«, sagte sie laut.
»Was hast du da? Den Vogel?«
»Ja …«
»Justine, was hast du denn vor?«
»Da war etwas, das ihn erschreckt hat«, entgegnete sie und wollte sich an ihn schmiegen, wollte seinen Geruch und seine Wärme spüren. »Ich hab es doch gesagt. Da war irgendetwas im Garten. Und er hat die Panik gekriegt.«
Hans Peters Augen waren rot gerändert. Sie strich ihm übers Kinn, doch es schien, als zucke er zurück.
»Was ist los?«, flüsterte sie. »Ist etwas passiert?«
Er streckte seinen Rücken und verhielt sich wie sonst auch. Allerdings mit einem fremden Klang in der Stimme.
»War es wirklich nötig, ihn mit in die Stadt zu nehmen?«
»Er war so ängstlich, verstehst
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