Der Schatten im Wasser
betrachtet, während es ihn an seine eigenen Sorgen erinnerte. Seine Tochter Christa hatte überhaupt kein einziges Bild zustande gebracht, es handelte sich um ein Stadium in ihrem Leben, das sie völlig ausgelassen hatte. Und das war nicht das einzige.
Hans Nästman redete nicht besonders viel. Er lag meistens da und hatte die Augen geschlossen. Ab und zu zuckten seine Augenlider, und es gelang ihm, denjenigen, der an der Bettkante saß, zu fokussieren. Manchmal brachte er sogar ein Lächeln hervor. Tommy drückte dann seine Hand, es gab nicht so viel zu sagen. In regelmäßigen Abständen kam eine junge Krankenschwester herein und vergewisserte sich, dass alles in Ordnung war. Was es natürlich nicht war. Doch dagegen konnte dieses hübsche weibliche Wesen leider auch nichts tun, wie übrigens auch sonst niemand.
Zum Glück schien er keine Schmerzen zu haben, da er höchstwahrscheinlich je nach Bedarf Morphin erhielt. Das Unangenehme allerdings war der Geruch im Zimmer, ein Gestank nach Verwesung und Stuhlgang. In den ersten Minuten musste Tommy immer durch den Mund atmen. Doch er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Auf dem Tisch standen Blumen von den Kollegen aus dem Präsidium, aber offensichtlich bekam er außer von Tommy keinen regelmäßigen Besuch. An manchen Tagen saß Nästmans Ehefrau Katarina bei ihm. Dafür, dass sie über 60 war, sah sie ungewöhnlich gut aus. Schlank, dunkles, hochgestecktes Haar, stark geschminkte Lippen. Er erinnerte sich an ihren Gesichtsausdruck während der Beerdigung, wie sie an die Decke der Kapelle geschaut hatte, ihre leeren, weit geöffneten Augen. Er fragte sich, wie es ihr danach wohl ergangen war. Hatte sie eine neue Beziehung begonnen? Oder wollte sie nach Hasse möglicherweise keinen anderen Mann haben? Vielleicht sollte er sie einmal anrufen und nachfragen, wie es ihr ging. Oft war es ja so, dass die große Einsamkeit erst eine Weile nach der Beerdigung begann.
Es wäre ein Riesenerfolg für ihn gewesen, diesen Fall zu lösen und die Tochter des Magnaten, Justine Dalvik, dranzukriegen. Doch zu Tommys Verärgerung war der Fall allzu früh zu den Akten gelegt worden. Erst jetzt, mehrere Jahre später, hatte er die Einwilligung des Leiters der Voruntersuchungen erhalten, den Fall erneut aufzurollen. Und das würde er, zum Teufel noch mal, auch tun.
Den Unterlagen zufolge hatte die verschwundene Berit Assarsson Justine Dalvik in Hässelby aufgesucht, um sich mit ihr über alte Hänseleien, die während der Schulzeit stattgefunden hatten, auszusprechen. Dalvik hatte angegeben, dass Assarsson ungefähr eine Stunde geblieben war, einige Gläser Wein getrunken und dann das Haus wieder verlassen hatte. Danach hatte sie keiner mehr gesehen.
Aus begreiflichen Gründen dauerte es eine Weile, bis die Polizei ernsthaft zu suchen begann. Sie besaß leider keine unbegrenzten Ressourcen, und außerdem war das Verschwinden irgendwelcher Personen nichts Neues. Die Mehrzahl von ihnen kam jedoch früher oder später zurück. Tommy war, wie gesagt, die Akte durchgegangen. Doch es stand noch aus, einige Details zu prüfen. Wie verhielt es sich zum Beispiel mit der Wetterlage am Ufer des Mälarsees an jenem Tag? Hatte es geschneit? Wie dick war das Eis, herrschten Plusgrade, sodass es während der Tage, bevor die Polizei vor Ort eintraf, bereits geschmolzen sein konnte? Er musste sich beim SMHI, dem meteorologischen und hydrologischen Institut Schwedens, erkundigen und dann eine Bewilligung für eine polizeiliche Untersuchung des Sees erwirken.
Nästman hatte Justine Dalvik verhört, das hatte er ihm gegenüber selbst erwähnt. Doch war es ihm nicht gelungen, etwas zu erfahren, das für eine Verurteilung ausreichen würde. Was hätte denn, realistisch gesehen, überhaupt geschehen sein können? Hatte diese Frau ganz einfach die Nerven verloren und ihre ehemalige Klassenkameradin erschlagen? Okay. Nicht völlig undenkbar. Hasse Nästman hatte diesen Gedankengang verfolgt. Doch ihm hatte die Kraft gefehlt, die Spur weiterzuverfolgen. Auf dem Papier arbeitete er nach wie vor ganztags, doch er ging zur Chemotherapie und war ziemlich oft außer Haus, außerdem fehlte ihm das nötige Konzentrationsvermögen.
Wer hätte sich auch in diesem Zustand konzentrieren können?, dachte Tommy mit einem Gefühl des Unbehagens. Er hatte unglaubliche Angst davor, selber krank zu werden und auf die Fürsorge anderer angewiesen zu sein. Seine größte Sorge war, plötzlich irgendwo unter der
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