Der Schatten im Wasser
Schatten erschienen. Ein Rehbock schrie, oder war es das Bellen eines Hundes?
Er stellte seine Schuhe fein säuberlich nebeneinander auf den Fußboden in der Diele. Seine eine Ferse schmerzte ein wenig. Er hätte sich prophylaktisch ein Pflaster draufkleben sollen, denn die Schuhe waren so gut wie neu. Warum bekam man immer Druckstellen in neuen Schuhen?
Auf Zehenspitzen schlich er in die Küche. Die Spüle glänzte, der Boden war frei von Glassplittern, sicherheitshalber ging er in die Hocke und kontrollierte die Ecken. Er horchte in Richtung Diele. Kein Laut. Öffnete den Kühlschrank, griff nach der Flasche mit Calvados und goss sich ein kleines Gläschen von dem goldbraunen Branntwein ein. Nicht viel, nur um den Geschmack auf der Zunge zu spüren, das Aroma einen kurzen Moment zu genießen, bevor er zu Bett ging.
Er öffnete die Tür zu Christas Zimmer einen Spalt breit und horchte in die stickige Stille. Gleichmäßige, ruhige Atemzüge, sie schlief. Unmittelbar überkam ihn ein Impuls, zu ihr zu gehen, sich über ihr Kissen zu beugen und seine Nase in ihre vom Schlaf leicht feuchten Locken zu bohren. Ich hab dich lieb, meine Kleine, ich hab dich lieb. Manchmal konnte er sich furchtbar über sie aufregen, darüber, dass sie so unbeholfen war. Was unangebracht war, denn sie konnte ja nichts dafür. Eine Zeit lang hatte er versucht, sie mit zum Lauftraining nach draußen zu nehmen. Er hatte sich vorgestellt, sie an die Hand zu nehmen und auf breiten Wegen zu laufen, sodass sie nur darauf achten musste, ihre Füße zu heben. Doch es hatte nicht funktioniert. Sie hatte bald die Lust verloren. Sich nicht gerade geweigert, denn das tat sie selten, wenn er etwas vorschlug, aber sie hatte sich extrem steif und staksig wie eine Aufziehpuppe bewegt. Alles in allem war ihm sein Versuch dann doch reichlich übertrieben erschienen.
Es war ein Trauerspiel mit dieser Tochter. Und weitere Kinder hatten sie nicht bekommen. Doch es lag nicht an ihm. Er hatte Ariadne dreimal geschwängert, aber sie hatte jedes Mal eine Fehlgeburt erlitten, also lag es an ihr, an ihrem Fortpflanzungsorgan und ihren ständigen und langwierigen Blutungen. Eigentlich hatte er sich ihre Ehe etwas anders vorgestellt. Obwohl man natürlich nicht so argumentieren durfte, das sah er ein. Denn keiner konnte letztlich etwas dafür, wie sein oder ihr Körper beschaffen war.
Sie war trotz alledem eine gute Ehefrau. Er wusste, dass er manchmal ungerecht war. Wenn die blinde Wut ihn übermannte, geriet er mitunter so in Rage, dass er stechende Schmerzen in der Herzgegend bekam. Doch häufig war sie einfach dermaßen unterwürfig, ja geradezu blöd, und seine Tochter kam ihm in dieser Hinsicht wie die reinste Kopie ihrer Mutter vor, dieser aufgedunsene, schwielige Körper, sie war regelrecht fett, es lag in ihren Genen, und es entsprang der Kultur, aus der sie stammte. Dort musste eine Frau fett sein. Ihre Mutter war genauso gewesen. Oder war es vermutlich noch immer. Sie hatten sich eine ganze Weile nicht gesehen. was ihm nur recht sein konnte. Denn Ariadne war jedes Mal so verändert, wenn ihre Mutter zu Besuch kam. Sie saßen dann die ganze Zeit in der Küche und steckten die Köpfe zusammen, auffallend ähnlich, gleich dick, und er verstand nicht, worüber sie sprachen.
Er nippte an seinem Calvados, goss noch ein paar Tropfen nach. Der Schlüssel zur Abstellkammer lag ganz oben im Bücherregal. Er sah ihn ein wenig über die Kante hinausragen. Eine plötzliche Unruhe ließ ihn aufschrecken. Er streckte sich nach dem Schlüssel, steckte ihn ins Schloss und schloss die Tür auf.
Als er sie öffnete, fiel sie geradewegs hinaus auf den Dielenboden.
DIE MAVERIC AUS GRONINGEN war mit ihrer Größe fast zu lang für die Schleuse, die von einem zum anderen Schleusentor 135 Meter maß. Es handelte sich um ein Kühlschiff, das Obst aus Südamerika importierte und auf dem Rückweg Fracht von Supra transportierte. Oben im Manöverturm herrschte immer eine gewisse Anspannung, wenn sich dieses riesige Schiff ankündigte.
Es war kurz nach zehn Uhr abends. Jill hatte in der Zwischenzeit ein paar Stunden geschlafen, fühlte sich aber alles andere als ausgeruht. Das Anstrengendste an der Schichtarbeit war, tagsüber schlafen zu müssen, wenn alle anderen Menschen wach und aktiv waren. Einige Handwerker im Nebenhaus waren gerade dabei gewesen zu bohren, sodass ihr der Lärm direkt ins Gehirn fuhr. Dementsprechend war ihr leicht schwindelig, und sie fühlte sich matt,
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