Der Schatten im Wasser
sie ihn in der Familie genannt hatten, war Allgemeinmediziner und hatte sich um die Jungen gekümmert, als sie noch klein waren und von allerlei Kinderkrankheiten und Wehwehchen geplagt wurden. Bei seinem letzten Besuch hatte er seine Brille in die Stirn hochgeschoben, seine Stimme klang hell und nasal.
»Die von der Versicherung liegen mir ständig in den Ohren, sie verhalten sich in letzter Zeit wie die Kletten. Sie drohen damit, dein Krankengeld einzubehalten.«
»Ha, da es sich ja sowieso nur um einen geringen Betrag handelt, ist es mehr oder weniger zu verschmerzen«, hatte er gekontert.
»Aber es handelt sich um dich als Menschen.«
»Ja?«
»Du befindest dich mittlerweile in deiner dritten Krankschreibungsperiode. Oder? Jeweils zwei Jahre habe ich dir gegeben. Lieber Tor, das ist nicht länger tragbar, du musst versuchen, dein Leben anzupacken.«
Anpacken. Ein Ausdruck, über den er und Berit sich aufregen konnten. Packen Sie dieses Stück hier an.
»Ach ja?«, hatte er geantwortet. »Und was genau meinst du damit?«
»Versteh doch, Tor. Ich kann dich nicht langer krankschreiben, selbst wenn es mir gelingen sollte, die Kasse möglicherweise ein weiteres Mal zu überzeugen, denn du hast ja immerhin erhöhten Blutdruck. Aber ehrlich gesagt, glaube ich, dass ich dir damit keinen Dienst erweise.«
»Und was wäre dein Vorschlag, dein Ratschlag? Willst du mich etwa zu einem Seelenklempner überweisen?«
Der Arzt zog an den Ärmeln seines weißen Kittels, der plötzlich wie eingelaufen wirkte. Er sah gehetzt aus.
»Wie du sicher verstehst, musst du es selbst wollen, es hängt allein von dir ab.«
Es war Viertel nach eins. Am Gelben Kiosk, der vor einigen Jahren in einen Grillimbiss umgewandelt worden war, bog er links ab und fuhr die Schleifen hinab zum Mälarsee. Es war keine bewusste Entscheidung, es geschah einfach.
Das vorige Mal, im Spätwinter 1998. Warum hatte er damals eigentlich nicht das Auto genommen? Ja genau, weil er denselben Weg und dasselbe Verkehrsmittel wie Berit benutzen wollte. Er wusste, dass sie zweimal innerhalb einer Woche hinaus nach Hässelby gefahren war. Er wollte versuchen, sich in ihre Gefühlslage und die Dinge, die sie beschäftigt hatten, hineinzudenken. Denn schon damals war es bereits zu spät zu fragen, und das Einzige, was er tun konnte, war, ihren allerletzten Tag zu rekapitulieren.
Er wusste, dass sie mit der U-Bahn bis zur Endstation nach Hässelby strand gefahren war. Von dort aus war sie, zumindest beim ersten Mal, bis zum Friedhof gelaufen, und es war ziemlich kalt. Sie hatte Lichter am Grab angezündet und ihre Handschuhe auf dem Grabstein liegen lassen. Eine ganze Weile später hatte er sie von der Polizei zurückbekommen. Sie waren steif und fest und hatten den ihr eigenen Duft längst verloren.
Vom Friedhof aus war sie hinunter zu Justine Dalviks Haus gegangen, als hätte irgendetwas sie magisch dorthin gezogen oder gelockt. Die Waldhexe persönlich, verdammt noch mal. Zweimal war das geschehen. Nach dem ersten Mal war sie durchgefroren und voller Angst nach Hause zurückgekehrt. Sie nahm ein Bad und legte sich früh schlafen, und als er sie trösten wollte, lief alles so schief, sie verstand ihn falsch und dachte, dass er mit ihr schlafen wollte.
Genauso war es oft, dachte er. Wir befanden uns selten auf einer Wellenlänge, eigentlich nur am Anfang, in der ersten verliebten Zeit.
Eine Woche nach dem ersten Besuch kehrte sie erneut nach Hässelby zurück. Und seitdem war sie verschwunden.
Er war jetzt unten am Haus angekommen. Das hohe weiße Steinhaus. Durch die Zweige hindurch konnte er sehen, dass in den Fenstern Licht brannte. Er zuckte zusammen. Schaltete den Motor ab und blieb sitzen.
War Justine Dalvik etwa mitten in der Nacht wach? Besaß sie immer noch diesen Vogel? Allein schon die Tatsache, dass sie einen großen, wilden Vogel in ihrem Haus hielt, deutete doch darauf hin, dass sie nicht ganz normal war. Er dachte daran, was Berit ihm über die Ereignisse während ihrer Schulzeit erzählt hatte, und dass sie sie gemobbt hätten. Gewisse Geschöpfe, sowohl Menschen als auch Tiere, ziehen die Missgunst anderer geradezu an. Zu Hause bei seinen Großeltern hatte es ein Huhn gegeben, das ständig von den anderen Hühnern gepiesackt wurde. Als kleiner Junge hatte er versucht, es zu beschützen und die anderen Hühner wegzujagen, wenn sie mit ihren spitzen Schnäbeln auf das Tier losgingen.
»Das bringt nichts, mein Junge«, sagte Oma Ida.
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