Der Schatten im Wasser
Mundwinkeln hinab und unters Lätzchen rann, die Windeln, die nach Urin stanken. In ihren besten Jahren hatte Flora fast übertriebenen Wert auf ihr Aussehen gelegt.
In ihren besten Jahren. Angesichts der Erinnerung spannte sie sich innerlich an, sie musste ihr Gesicht abwenden und mehrmals tief durchatmen.
Hans Peters Vater Kjell hatte als Klempner gearbeitet, während Birgit Gymnasiallehrerin war. Eine ungewöhnliche Kombination, hatte Justine gedacht, als sie den beiden zum ersten Mal begegnete. Sie waren total gegensätzlich. Kjell war ein extrovertierter, gut gelaunter Typ, der gerne seine Scherze trieb. Justine hatte schon immer Schwierigkeiten mit dieser Sorte Mensch gehabt. Alles nur Fassade, keine Möglichkeit, dahinterzublicken. Und wem von ihnen war Hans Peter ähnlich? Zum Glück keinem von beiden. Weder dem Wesen nach noch vom Aussehen her.
Auf der Kommode stand ein verstaubtes Foto von Margareta, blond und lachend. In ihrem Gesicht konnte sie das fliehende Kinn und den Mund des Vaters erkennen. Hans Peter hingegen war dunkelhaarig. Oder, besser gesagt, war es gewesen. Vielleicht hatte er die Haarfarbe von Birgit, die jetzt weißhaarig und runzlig war.
Werden wir beide auch einmal so sein?, dachte sie und wollte nach Hans Peters Hand greifen, doch der war gerade auf einen Hocker gestiegen, um eine Glühbirne auszuwechseln. Kjell stand mit einer neuen neben ihm.
»Und wie geht’s, HP? Hast du dir deine Männlichkeit noch bewahren können? Oder saugt sie dir das bisschen, was du eh nur hast, auch noch aus?« Er machte eine Geste in Richtung Justine und lachte dröhnend.
»Sie ist schon ziemlich lange kaputt, diese Lampe«, hörte sie Birgit sagen. »Wir trauen uns ja nicht mehr, irgendwo hochzusteigen. Denn dann fallen wir mit Sicherheit hinunter und brechen uns den Oberschenkelhals. Und was mich anbelangt, so habe ich, weiß Gott, genug von Krankenhäusern.«
Sie wandte sich an Justine.
»Es ist nicht leicht, alt zu werden, das wirst du eines Tages auch feststellen.«
»Ja.«
»Noch bist du ja jung. Aber nicht mehr so jung. Oder? Wie alt bist du noch gleich? Ich habe es wohl schon einmal gefragt, aber ich erinnere mich nicht mehr.«
»Etwas über 50«, antwortete sie ausweichend.
Birgits Blick verfinsterte sich plötzlich. »Dann ist es zu spät.«
»Mama!«, rief Hans Peter vom Hocker aus.
»Was denn?«, fragte sie unwirsch zurück. »Ist es denn nicht so?«
»Du hättest ein bisschen aktiver sein können, HP, das ist es, was sie meint, deine Mutter«, mischte sich Kjell in das Gespräch ein. »Dann hätten wir junges Gemüse im Haus gehabt. Das hat sie die ganze Zeit schon vermisst.«
»Jetzt ist es, wie es ist!«, entgegnete Hans Peter, und in seiner Stimme lag etwas Frostiges.
»Hör auf, ihn HP zu nennen, er ist doch weiß Gott keine englische Soße«, sagte Birgit gereizt. »Darum habe ich dich schon mindestens tausend Mal gebeten, Kjell, aber du sagst es immer wieder. Kannst du nicht ein Mal auf mich hören! Er ist auf den Namen Hans Peter getauft, vielleicht erinnerst du dich daran.«
»Sicher, sicher. Aber man darf doch wohl noch ein wenig spaßen, oder? Das macht das Leben doch erst lustig. Aber das scheinen gewisse Griesgrame ja nicht zu verstehen.«
»Wie lustig das ist, darüber kann man durchaus unterschiedlicher Auffassung sein.«
»Du sagst es.«
»Und außerdem ist die Sache mit den Enkelkindern doch schon lange nicht mehr aktuell«, fuhr Birgit fort. »Ich habe längst kapituliert. Denn nicht nur ihr seid zu alt. Wir sind es auch. Wir auch. In unserem Alter empfindet man das Trappeln von Kinderschuhen leicht als ohrenbetäubend.« Sie lächelte zynisch.
Justine versuchte, nicht hinzuhören. Sie griff nach der Kaffeekanne.
»Darf ich noch nachgießen?«
»Ja, gerne.«
»Ja, mir auch«, schloss sich Kjell an. »Frisch aufgebrühter schmeckt doch um einiges besser als diese Krankenhausplörre. Erinnerst du dich noch daran, wie unzufrieden du mit deren Kaffee warst?«
Die Glühbirne war ausgewechselt. Kjell betätigte den Lichtschalter, und die runde Deckenlampe verbreitete einen grellen, fast blendenden Schein. Birgit fuchtelte mit den Armen.
»Mach aus. mach aus!«
Kjell räusperte sich.
»Alles, was man macht, ist verkehrt. Aber du, HP, Verzeihung, Hans Peter, tust du mir den Gefallen und guckst dir noch eine andere Sache an, aus der ich nicht richtig klug werde? Wo du sozusagen schon dabei bist. Unten im Keller, ich glaube, es handelt sich um einen
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