Der Schatten von nebenan - Roman
woanders. Aber mit der Zeit kann das Ziel sich ändern. Es ist wie mit Leffert Bucks Williamsburg Bridge, die über den East River führt. Einmal bringt sie dich nach Williamsburg, im nächsten Jahrzehnt in den mysteriösen Ort Satmar, eine kleine transsylvanische Stadt, die von einem Rabbi nach dem Krieg an Brooklyns Küste angesiedelt worden war. Zwei gänzlich verschiedene Ziele am selben Ende einer Sache, einzig durch die Zeit voneinander getrennt. Und es ist genau dasselbe mit einer Geschichte. Es sind dieselben Fakten, dieselben Zeichen, dieselben Wörter, dieselben Buchstaben, die Anfang und Ende verbinden, und doch weiß man nie, wo die Geschichte einen hinführt, wo man endet, ganz egal, ob man sie vorher gehört hat oder nicht.
Bald nahm die Mutter uns auf der Veranda zur Seite, um uns in besorgtem Ton darüber zu informieren, dass sie die ersten Anzeichen von Alzheimer bei ihrem Mann vermutete. Ich nahm an, sie schämte sich für ihn, obwohl sie über seine Krankheit im Ton voller Zuneigung und wahrer Betroffenheit sprach.
Nachdem Claires Mutter ihren Verdacht auf Alzheimer geäußert hatte, bemerkte ich, dass es da etwas Liebenswertes an Claires Vater gab, das ich davor noch nicht entdeckt hatte. Das bedeutete nicht, dass wir Freunde werden würden. Aber es reichte, Claire zu sagen, dass ich glaubte, ihr Vater wäre ein ehrbarer Mann, und dass Männer wie er nicht unbedingt Gewinner seien, es aber sein sollten. Wie zum Dank küsste sie mich daraufhin.
Die fünf Tage in Smithtown gingen zu Ende und wir kehrten zurück in das kleine Apartment in Brooklyn Heights, das wir ein paar Monate vor unserer Hochzeit angemietet hatten. Es war ein Zimmer in einem begehbaren Dachboden eines Backsteinhauses, brütend heiß im Sommer und zu kalt im Winter, und mit so wenig Platz, dass ich die Kartons mit meinen Büchern im Keller verstauen musste, wofür der Vermieter jeden Monat zusätzliche fünfzig Dollar verlangte. Claire fing bald nach unserer Hochzeit an, nach Kaufobjekten zu suchen. Sie sagte, ich brauche einen festen Platz zum Schreiben. Neun Monate später wurden wir fündig. Das war kurz nachdem Claire ihren neuen Job in der Manhattaner Literaturagentur Erika Edelweiss angenommen hatte. Claire war voller Tatendrang, ganz so, wie es nach einer Hochzeit sein sollte, wo die Zukunft sich vor dir öffnet wie ein Karton voll teurer Geschenke, eines für jedes Jahr. Wenn wir nicht voller Ideen und Pläne gewesen wären, wären wir vernünftiger gewesen, hätten etwas Günstigeres kaufen können, vielleicht nur eine Wohnung und nicht ein ganzes Haus. Oder wir hätten einfach weiter zur Miete gewohnt. Stattdessen gaben wir Geld aus, das wir nicht hatten. Wenn wir nicht genau dieses Haus in der Carroll Street gekauft hätten, wäre keines der folgenden Dinge passiert, hätte das Unglück nie seinen Lauf genommen. Mit dem Kauf aber war es, als hätte sich die Zeit dieser Welt plötzlich beschleunigt. Den größten Teil der Anzahlung für das Haus hatten wir mit unseren Kreditkarten beglichen. Sofort fingen sich die Rechnungen zu stapeln an, wurden zur wöchentlichen Erinnerung an unseren finanziellen Leichtsinn. Wir hatten außerdem eine Hypothek aufgenommen, die erheblich zu hoch war für Claires Gehalt. Die monatliche Belastung war so groß, dass wir längst damit aufgehört hatten, Geld für Käse und gefrorene Steaks auszugeben. Wir erhielten keine Werbesendungen von Kreditkartenfirmen mehr. Unser Barkonto war zu einem Nichts geschrumpft, ja sogar zu noch weniger. Auf dem Papier hießen wir uns Hauseigentümer, doch das war lachhaft. Der Geldmangel fühlte sich an wie ein Griff an meine Kehle. Unser Leben in Park Slope lief auf die einfachste Gleichung hinaus. Wenn ich das Buch im ersten Jahr schreiben würde und eine halbwegs vernünftige Vorauszahlung bekäme, könnte ich einige der Schulden zurückzahlen. Dann könnte Claire nach einem Job suchen, in dem sie mehr verdienen würde. Kein Buch in einem Jahr, und wir würden im Bankrott enden.
Ich hatte begonnen, morgens früher aufzustehen und nicht mehr stundenlang die Zeitung zu lesen. Die nachmittäglichen Besuche in den Brooklyner Buchhandlungen hatte ich eingestellt. Keine langen Mittagspausen in den Restaurants in irgendwelchen Seitenstraßen. Keine Matineen in den Kinos mehr, die es überall in New York gab, und zu denen ich mit dem Bus und der U-Bahn kreuz und quer durch die ganze Stadt reiste, und wo ich üblicherweise mit Rentnern saß, die sich ihr
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