Der Schatten von nebenan - Roman
Glück.
Kurz darauf kam das Essen. Schwestern eilten herein und hinaus, Geschäftigkeit machte sich im Zimmer breit, ich wurde dorthin und dahin geschickt, während Claire tiefer in eine innere Lethargie fiel. Ich blieb noch eine halbe Stunde und machte mich dann auf den Heimweg.
Als ich den U-Bahnhof erreichte, war er aufgrund einer gebrochenen Wasserleitung geschlossen. Einige MTA -Arbeiter in blauen Uniformen schickten die Fahrgäste zu den Haltestellen am Broadway und der Houston Street. Als ich die Houston Street erreichte, lief ich einfach weiter Richtung Süden. Ich hörte dem Klang meiner Schuhe auf dem Bürgersteig zu und versuchte, Ruhe in der Ebenmäßigkeit meiner Bewegungen zu finden. Ich ging den ganzen Weg hinüber zum East River. Dort machte ich kehrt und wanderte durch die dunklen, gewundenen Straßen Chinatowns. Ich war froh, dass Claire unverletzt zu sein schien. Ich hatte aber das bedrückende Gefühl, dass der Unfall eine Veränderung bedeuten würde. Ich wusste nicht genau was, aber ich war plötzlich sicher, unter der Oberfläche unserer Existenz brodelte etwas Großes. Ich spürte, dass der ganze Vorfall, ja der ganze Tag, der mir plötzlich wie ein Traum erschien, in eine Krise münden würde, die alles bisher Gewesene in den Schatten stellte. Ich war plötzlich in der Lage, einen klaren Blick auf das zu werfen, was nichts anderes mehr zu sein schien als ein riskanter Bauplan für ein Kartenhaus, das unser Leben war, und mir war, als ob die dreitausend Volt dieses Gerüst gefährlich ins Schwanken gebracht hätten.
-10-
C laire und ich hatten unsere Flitterwochen eineinhalb Jahre zuvor in Long Island verbracht. Claires Mutter, eine pensionierte Schulbibliothekarin, wollte den Eindruck gepflegter Harmonie vermitteln, als sie uns das Zimmer oben zusprach, in das die Morgensonne direkt hereinschien. Anschließend hatte sie uns gleich in die Küche eingeladen. »Hier trifft sich die Familie. Irgendjemand ist immer hier, schneidet etwas, telefoniert, mixt oder rührt«, hatte sie gesagt. Sie hatte versucht, das Haus mit inszenierter Aktivität zu füllen. Vielleicht hatte sie sich dabei an eine frühere Version ihres Lebens erinnert, einen Entwurf, der nie Wirklichkeit geworden war. Wenn ich jetzt zurückblicke, war dieser Sommer wie eine neue Ära für mich gewesen. Es war eine Zeit des Glücks. Wir gingen im eiskalten Atlantik schwimmen, und zweimal kauften wir frische Hummerschwänze. Claires Mutter kochte den Hummer in dem kleinen und sauberen Kolonialstilhaus, in dem ihr Mann und sie ihr ganzes verheiratetes Leben verbracht hatten. Als ich gegenüber Claire meine Skepsis wegen der Nettigkeit ihrer Mutter nach den ersten zwei Tagen äußerte, tat Claire meine Bemerkung mit einem schnellen Lachen und einem Kuss ab, und ich beschloss, ihr zu glauben und schaffte es, die manchmal harten Blicke ihrer Mutter etwas anderem zuzuschreiben, einer schlechten Laune oder vielleicht nur einem hartnäckigen Erkältungsvirus, der gerade die Runde machte. Während dieser Tage hatten Claire und ich uns üblicherweise nach dem Abendessen in unser Zimmer zurückgezogen, wo wir dann lasen oder auf dem kleinen Tisch Solitär spielten. Zwei- oder dreimal, an besonders schönen Abenden, hatten wir auf der Veranda gesessen und dem Sonnenuntergang zugesehen. Dann war Claires Vater gekommen und hatte uns Gesellschaft geleistet. Er hatte nach seiner Pensionierung als Hauptbriefträger fürs örtliche Postamt ein starkes Interesse an den Wissenschaften entwickelt und genoss es, über Dinge zu sprechen, die so weit von ihm und seinem Leben entfernt lagen wie es nur ging. Das traf besonders auf sein jüngstes Lieblingsthema zu. Er hatte sein Interesse an schwarzen Löchern im Universum entdeckt. Während unseres Besuchs war ich die einzige Person, die er ansah, wenn er sich dafür begeisterte. Oft konsultierte er ein Buch mit dem Titel »Schwarze Löcher, Wurmlöcher und Zeitmaschinen«. Die kleinen Geschichten, die er erzählte, waren phantasiereiche Anekdoten von Menschen mit halbwissenschaftlichen Kenntnissen und enthusiastischer Vorstellungskraft, wenn es zu den Weiten des Kosmos kam. Einige der Geschichten aus dem Buch wiederholte er, erzählte sie ein zweites Mal mit derselben unwissenschaftlichen Energie, mit demselben Glänzen in den Augen. Es macht mir nichts aus, wenn Menschen dieselben Geschichten mehrmals erzählen. Eine Geschichte ist wie eine Brücke. Man beginnt irgendwo, betritt etwas und endet
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