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Der Schatten von nebenan - Roman

Der Schatten von nebenan - Roman

Titel: Der Schatten von nebenan - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Saur
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»Sie fühlt sich schuldig«, sagte sie, und ich glaubte, den Ton echter Verwunderung aus ihrer Stimme herauszuhören.
    Als könnte ich die Sorgen verdrängen, hievte ich nach dem Telefonat einige der Bücher meines Vaters aus Kartons und stapelte ein paar der Taschenbücher auf dem Fußboden. Es handelte sich um billige Bändchen, abgenutzt und oft ohne Titelseite. Mein Vater hatte Tennessee Williams oder Faulkner geliebt. Er hatte Hemingway und James M. Cain geschätzt, Poe, Hawthorne und Henry James verehrt. Er hatte die gesammelten Werke von Joseph Conrad, Balzac, Maupassant und Flaubert gelesen. Cervantes’ »Don Quixote« hatte er bewundert. Wenn es nichts anderes zu lesen gab, machte es ihm nichts aus, eine Ausgabe von Reader’s Digest mit nach Hause zu bringen, die er auf irgendeiner Türschwelle gefunden hatte. Er arbeitete als Highschool-Lehrer und als Maurer. Er gab Fahrstunden, kellnerte und verkaufte Bahnfahrkarten. Einmal gründete er ein Unternehmen, das Zahnbürsten im Abonnement anbot. Er müsse von Zeit zu Zeit einen Job annehmen, hatte er dann erklärt; sonst würde uns das Arbeitslosengeld gestrichen. Es dauerte nie lange, bis er aufgab oder entlassen wurde. Jedes Mal, nachdem eine Beschäftigung oder Unternehmerschaft zu Ende gegangen war, wandte er sich wieder dem Lesen zu. Er öffnete zuversichtlich ein neues Buch, und nachdem er das durchgelesen hatte, griff er zum nächsten, und immer so weiter. In der Zeit, in der er las, war er geduldig, wenn ich morgens zu lange schlief, nachsichtig, wenn eine Lehrerin meine Hausaufgaben bemängelte, großzügig, wenn ich nach dem Einkaufen das Wechselgeld behielt. Bis ihm nach ein paar Monaten wieder in den Sinn kam, dass ein Mann etwas anderes mit seinem Leben anzufangen hatte als nur zu lesen. Dann begann das ganze Spiel von neuem. Es war nicht so, dass wir je hungerten, wenn er nicht arbeitete. Der Arbeitslosenscheck war hoch genug für ein wenig Taschengeld für mich, die Miete, seine Zigaretten, Essen und die Bücher. Manchmal gab es samstags sogar Kinokarten für uns beide.
    Als mein Vater an Lungenkrebs starb, drei Wochen nachdem er ins Krankenhaus von Pennsylvania eingeliefert worden war, war ich elf Jahre alt. Er wurde auf einem kleinen Friedhof in Harrisburg begraben, verabschiedet von einem Priester, der vom Krankenhaus beauftragt worden war, seinem Arzt und mir. Es war ein kalter, klarer Januarmorgen. Ich erinnere mich nicht an das Läuten der Kirchenglocken oder das Singen der Vögel, an eine Grabesrede oder den Lärm der Autos, als wir vom Friedhof wegfuhren. Nach der Beerdigung wurde mir gesagt, dass ich jetzt ein Waisenkind geworden sei. Ein Sozialarbeiter fuhr mit mir von Harrisburg zu unserer Wohnung in Jersey City, wo ich meine Habseligkeiten zusammensuchen sollte. Erst dachte die Frau vom Sozialamt, es wäre keine Frage, dass ich die Bücher meines Vaters zurückließ. Meine Gefühle waren bis zu diesem Zeitpunkt verschlossen gewesen. Aber jetzt bekam ich einen Wutanfall, den die Frau wahrscheinlich bis heute nicht vergessen hat. Ich schrie und heulte, riss an ihrem Rock und hätte auch gebissen und gekratzt, wenn sie nicht rechtzeitig eingelenkt hätte. Nach meinem Ausbruch sah sie für eine Weile ratlos aus, zog dann aber los, um bei einer örtlichen Umzugsfirma fünf große Kartons zu besorgen, und das nur, um gleich darauf noch einmal zurückzukehren und weitere fünf Schachteln zu kaufen. Gemeinsam packten wir dann die Bücher in die Kartons. Es wurde in meiner Akte vermerkt, dass die Bücher zu mir gehörten und überall dorthin mitkamen, wo ich hinreisen sollte.
    Manchen der Bücher hatte die Zeit zugesetzt. Sie besaßen jetzt einen Überzug, der wie Marmor aussah. Einige von ihnen waren so lange geschlossen gewesen, dass sie beim Öffnen ein knisterndes Geräusch von sich gaben. Da war ein Joseph-Conrad-Roman, in dem ich eine halbe Seite las. Danach las ich ein paar Seiten in »Schuld und Sühne« und dann in »Liebende Frauen«. In dem Lawrence-Roman fand ich einen Kassenzettel. Das Buch war 1967 in einem Buchladen in der Stadt Elizabeth für fünfundfünfzig Cent gekauft worden. Als nächstes griff ich nach »Warten auf Godot«. Ich las die Stelle, wo Zotto zum ersten Mal auf seine zwei wartenden Freunde stößt. Ich blätterte weiter, las die Seite, wo Zotto dem wartenden Paar verspricht, dass er zurückkommen werde. Ich las und las, aber keiner der Absätze sog mich in die Geschichte. Stattdessen studierte ich die

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