Der Schatten von nebenan - Roman
renn nicht immer davon. Nicht im Buchladen, aber nein … Drüber.«
Im allerersten Moment dachte ich, die Frau offenbarte einen Blick in eine Welt, die nichts mit mir oder Amos oder Greta zu tun hatte, redete unzusammenhängendes Zeug, streute ein Rätsel ohne Zusammenhang oder Lösung.
Plötzlich wusste ich, dass es weder eine Verrücktheit noch ein Rätsel waren, sondern dass die Alte etwas wusste, das sonst niemand wusste.
Mit der gleichen Entschlossenheit, mit der ich eine Viertelstunde zuvor das Haus verlassen hatte, eilte ich nun zurück. Ich fand Claires kleine Taschenlampe in der Kommode im Flur. Es herrschte kein Verkehr, und die Gehwege waren menschenleer, als ich die Seventh Avenue erreichte. Ich wartete ein paar Minuten vor dem Buchladen. Dann stapelte ich fünf herumliegende Ziegelsteine übereinander und zog die Feuerleiter neben dem Eingang des Buchladens herunter, was ein Rasselgeräusch verursachte, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ich zog mich schnell zum oberen Stockwerk, trat gegen die Pappe, mit der das Fenster verdeckt war, und sprang voller Entschlossenheit in das Apartment. Eine plötzliche Dunkelheit umgab mich, als ich die Pappe wieder ins Fenster stellte, und ich musste einen großen Spalt freilassen, durch den dünn das Licht einer Straßenlaterne floss. Die abgestandene, modrige Luft verursachte mir Übelkeit. Alte Handtücher waren über die dreibeinigen Kommoden gelegt. Abgenutzte Laken bedeckten eine alte Couch. Ich nahm den würzigen Geruch von Marihuana wahr und sah einen Plattenspieler von der Art, die wie Tiersärge aussehen. Ich war von totaler Stille umgeben. Das Apartment wurde dunkler, je weiter ich mich vom Fenster fortbewegte. Die Taschenlampe leuchtete bleistiftdünn, und es dauerte nicht lange, bis sie ihren Geist ganz aufgab. Ich musste meine Hände benutzen, sie immer wieder auf den knarrenden Boden setzen, um meinen Weg tiefer ins Apartment zu finden. Als ich Stoff fühlte, schob ich das Material beiseite und erkannte Umrisse, bis der Vorhang zurückrauschte und mich wieder Finsternis umgab. Ich wusste, dass der Buchladen ein Fenster in seinem Lager hatte, das nach hinten ging, und ich nahm an, dass dieser Raum darüber auch ein Fenster an der gleichen Stelle haben müsste. Ich kniete und tastete mich vorwärts, eine Hand auf dem dreckigen Fußboden ausgestreckt, mit der anderen nach vorn tastend. Als ich mich zur Wand vorarbeitete, musste ich einen Stuhl zur Seite schieben, der rumpelnd zu Boden fiel. Ich erreichte das Fenster und drückte die widerspenstige Pappe ein wenig beiseite, um Licht in den Raum zu lassen. Der blasse, wässerige Mond schien jetzt gedämpft durch die Öffnung. Aus purem Zufall flackerte auch meine Taschenlampe in dem Moment wieder auf.
Da sah ich sie. Das Mädchen war geknebelt. Tiefsitzende Furcht sprang mich aus ihren weit aufgerissenen Augen an. Als ich meinen eigenen Schreck überwunden und mich davon überzeugt hatte, dass sonst niemand im Raum war, näherte ich mich ihr langsam, so wie man auf ein verletztes Tier zugeht, um es nicht noch mehr zu erschrecken. Ich begann vorsichtig, den festgebundenen Schal zu lösen, der ihr als Knebel im Mund steckte. Ihre Hände waren hinter dem Rücken zusammengeschnürt. Das Mädchen atmete vier, fünf Mal schwer. Es entstand eine seltsame Halbstille, da ich ein Schreien anstelle des unregelmäßigen Luftholens erwartet hatte. Ich erhob mich, um die Öffnung im Fenster ein wenig zu vergrößern.
»Lassen Sie das, bitte«, sagte sie in ihrer dünnen, sehr jungen Stimme.
Ich kam wieder zurück, nahm die Hände hinter ihrem Rücken, die sie erst zur Seite ziehen wollte, und löste dann den engen Knoten. Es dauerte eine halbe Minute, da auch ich zitterte. Nachdem ich fertig war, rieb sie ihre Handgelenke und beugte sich vor, um selbst die Fesseln an ihren Füßen zu lösen. Das Mädchen war vielleicht fünfzehn oder sechzehn.
»Sind Sie allein?«, fragte sie plötzlich mit brechender Stimme.
»Ja.«
Sie schien zu zögern.
»Wie, wie haben Sie mich gefunden?«
»Zufall. Ich suche jemanden. Ich suche Greta Amos«, sagte ich, ohne die Zusammenhänge auch nur zu ahnen.
»Greta? Sie kennen Greta?«, japste sie.
Ihre Augen schienen mich im Zwielicht zu durchbohren, sie scharrte mit den Füßen auf dem Holzboden.
»Wer sind Sie?»
»Ich bin Gretas Nachbar.«
Sie schnappte. »Warten Sie, sagen Sie bloß. Ja, Sie sind der Typ, der ihr nachstellt?«
»Nachstellt?«
»Ja, nachstellt.«
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