Der Schatten von nebenan - Roman
Scilla hatte so auch weniger Angst. Also machte ich mit.«
Sie zuckte mit den Schultern und sah sich einen Moment lang um.
»Kann ich mal ins Bad?«, fragte sie dann.
»Oben, zweite Tür links.«
»Ist Ihre Frau noch weg?«
»Ja«, antwortete ich.
»Ich hab’s in der Zeitung gelesen. Mann, das ist vielleicht eine Geschichte«, sagte sie und rannte nach oben. Ein paar Minuten lang saß ich traumähnlich in der Dunkelheit unseres Wohnzimmers und zweifelte an meinem Verstand. Ich hörte bald die Spülung, und Greta eilte die Treppe wieder herunter, jede Stufe nehmend.
»Was wirst du deinen Eltern oder der Polizei sagen, wenn sie fragen, wo du warst?«
»Buchladen«, antwortete sie, »es ist sowieso an der Zeit, den Ort aufzugeben. Bald kommt der Winter, dann können wir eh nicht mehr hin. Meine Eltern kriegen auch noch eine Geldforderung. Natürlich müssen die nicht bezahlen. Aber wir müssen so tun als ob …«
Greta zog ein Stück Papier aus der Tasche und winkte mir damit zu.
»Ich werde es heute Nacht einwerfen«, sagte sie. Sie wedelte wieder mit dem Papier und lächelte.
Es ist nicht so, als ob ich nicht spätestens jetzt irgendwo in meinem Kopf gewusst hätte, dass ich sie hätte wachrütteln sollen, sie an beiden Schultern hätte packen und anschreien müssen. Dass ich sie hätte wissen lassen müssen, wie verrückt all das war. Die Wahrheit jedoch ist, dass ich schon fühlte, wie mein Widerstand abebbte. Ich habe irgendwo gelesen, dass Menschen am schnellsten handeln, wenn es aus Gier oder Angst geschieht, und dass die schicksalhaftesten Entscheidungen im Leben auf diesen zwei Gefühlen beruhen. Und ich war sowohl gierig als auch ängstlich. Ich war gierig auf das Geld und hatte Angst vor der Zukunft.
»Was sagen Sie«, drängelte Greta, als könnte sie meine Gedanken lesen, »ist doch sicher. Niemand wird verletzt. Sie sind da in etwas gestolpert, das Sie reich macht. Wie ein Lottogewinn.«
Glück ist nicht weniger verwirrend als Pech, und eine halbe Million Dollar fiel gerade praktisch vom Himmel in meinen Schoß, und mir war leicht schwindelig davon. Zwei Stimmen sprachen in meinem Kopf. Eine befahl mir, nicht zögerlich zu sein und die halbe Million Dollar anzunehmen. Sie erinnerte mich daran, dass ich doch auf ein bisschen Glück gehofft hatte, und warum sollte ich jetzt nicht zugreifen, nachdem ich so lang darum gebeten hatte, jetzt wo das Glück feenartig in mein Haus spaziert war. Es war mehr Geld, als ich je in meinem Leben gesehen hatte, und genau, was ich zu diesem Zeitpunkt brauchte. Eine andere Stimme mahnte mich, die Finger von dem Angebot zu lassen, weil im wahren Leben immer jemand zu Schaden kam, und schließlich hatte Greta selbst gesagt, dass ihr Coup, ihre Fiktion das wahre Leben widerspiegeln müsste.
Doch am Ende reagierte ich wie ein hungriges Tier, das Nahrung wittert und die Gefahren ignoriert. Greta wiederholte ihren Vorschlag: »Wir teilen es. Nicht durch drei, sondern wir machen halbe-halbe.«
Sie bewegte ungeduldig ihren Fuß, sah aber selbstsicher aus und strahlte mich aus ihrem Mädchengesicht mit einem Lächeln an.
»Was sagen Sie?«, presste sie hervor, bewegte ihre Füße und Arme wieder. Sie nahm eines ihrer langen, schwarzen Haare von ihrem Bein und sah zu, wie es auf den Boden schwebte.
»Und, was sagen Sie jetzt?«, drängte sie.
Wenn man kein Geld hat, fängt man an zu glauben, dass eine hohe Summe jedes Problem löst, und so alt und abgedroschen diese schlichte Weisheit ist, bleibt sie doch auf ewig wahr.
Ich erinnere mich nicht an den Moment, in dem ich wirklich ja sagte. Es kann sein, dass ich das Wort nicht ausgesprochen habe. Aber die Antwort stand in meinen Augen. Ich habe vielleicht nicht einmal genickt. Und doch war ich dabei.
Es folgte eine wohl dosierte Pause. Dann sagte Greta mit sanfter Stimme: »Am wichtigsten ist, dass Sie nicht darüber reden. Sie wissen doch, wie man ein Geheimnis für sich behält, oder? Erzählen Sie es Ihrer Frau, aber niemandem sonst. Denken Sie daran, dass alles bald vorbei ist. Bis Sonntag werden wir wieder zu Hause sein … Ich muss jetzt gehen. Scilla wartet auf mich. Wir haben einen Pakt, in Ordnung? Wir sind Partner, genau wie …«
Sie beendete den Satz nicht und stand auf.
»Übrigens, woher wussten Sie, dass Scilla in der leeren Wohnung war? Haben Sie mich da mal hochgehen sehen?«
»Ich nicht, nein. Jemand anderes hat dich gesehen.«
»Jemand? Ich dachte, Sie.«
»Was meinst du?«
»Ach, nichts. Ich
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