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Der Schatten von nebenan - Roman

Der Schatten von nebenan - Roman

Titel: Der Schatten von nebenan - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Saur
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die Küche und kam mit einem vollen Glas Wasser und einer Dose Cocktailnüsse zurück. Sie nahm das Glas mit beiden Händen, aber trank nicht, sondern setzte sich damit auf die Couch, während ich die Nüsse auf den Wohnzimmertisch stellte.
    Sie lächelte und pausierte und dann räusperte sie sich. »Ich dachte daran, Sie anzulügen.«
    »Lügen, weswegen?«
    »Wegen Scilla. Wegen mir. Wegen uns. Aber ich werde nicht. Lügen, meine ich. Wir haben die Entführung gespielt. Scilla und ich. Ich schätze, um abzuhauen«, sagte sie dann leise und wie scheinbar zu sich selbst.
    »Abhauen, wohin? Ich versteh nicht«, sagte ich.
    »Einfach nur, um wegzukommen.«
    Bevor sie nun fortfuhr, leerte sie das Glas Wasser mit ein paar großen Schlucken und stellte es auf den Fußboden neben sich.
    »Mein Vater sagt, er kann sich ein Leben ohne die Reisen des Schreibens nicht vorstellen«, fuhr sie fort und starrte verträumt in die Luft. Dann fragte sie: »Haben Sie mit ihm auch gesprochen?«
    »Er war nicht zu Hause«, antwortete ich.
    Wieder fiel sie in ihre Gedanken, bis sie sagte: »Einmal hat er mich stattdessen fortgeschickt.«
    »Fort wohin?«
    »Hongkong.«
    »Was hat das mit dir und dem anderen Mädchen zu tun?«
    »Es geht ums Geld«, sagte sie nun mit einer leichten Spur von Ungeduld in ihrer Stimme, als wäre ich ein jüngerer Bruder, der es immer noch nicht begriffen hat. Sie begann, die Cocktailnüsse zu essen, indem sie eine nach der anderen mit der rechten Hand in ihren offenen Mund warf. Von Zeit zu Zeit hörte sie auf zu essen, um ihre Finger an ihrer Jeans abzuwischen. Ihre Finger mit den abgekauten Nägeln sahen aus wie die Köpfe haarloser Tiere.
    »Warum war das Mädchen gefesselt?«, fragte ich.
    Greta schluckte und sagte: »Wenn Sie etwas entwerfen, das die Wirklichkeit widerspiegeln soll, muss es so genau und präzise wie möglich sein.«
    Sie sah mir in die Augen, überlegte kurz, und fuhr dann in einem Ton fort, als hätte sie sich durchgerungen, etwas Bestimmtes zu offenbaren: »Mein Vater sagt das. Als ich zwölf Jahre alt war, beschloss er, mich fortzuschicken. Er wollte, dass ich etwas über die Familie meiner Mutter lernte. Für mich klang es nach einem Witz. Es war für mich wie ein Witz und fing damit an, dass er nicht mehr in mein Zimmer kam, um mir einen Gute-Nacht-Kuss zu geben. Er bat mich dann eines Tages in sein Büro. Dann rief er meine Mutter dazu. Es war zu Beginn des Sommers, und nur eine Woche später flogen wir beide nach Hongkong. Er schickte mich fort. Sein Verhalten war feige. Am Ende blieben wir für zwei Jahre, und das hat er uns nicht gesagt. Naja, egal, wenn Sie wollen, dass es echt aussieht, können Sie nicht einfach eine Entführung vortäuschen und nach einem bisschen Taschengeld fragen. Es geht nur darum, dass es echt ist. Also musste es so aussehen, als wär’s vom Leben geschrieben«, sagte sie.
    Sie pausierte erneut. Dann fragte sie plötzlich: »Wovor versuchen Sie davonzulaufen?«
    Meine Gedanken stolperten. Ich war auf die Frage nicht vorbereitet.
    »Ich?«
    »Da gibt es etwas, nicht wahr. Da ist was, oder?«, bohrte sie nach, bevor sie ihr Wasser trank und einen halb geschmolzenen Eiswürfel aus dem Glas fischte, um an ihm zu lutschen.
    »Nun, jedenfalls, ist auch egal, denn ganz gleich, wo man hingeht, man braucht Geld. Und Priscillas Eltern sind steinreich«, sagte sie dann. »Wir verlangen eine Million.«
    »Eine Million?«
    »Die Lösegeldforderung ist raus.«
    »Raus?«
    »Es macht keinen Sinn, den Plan jetzt aufzugeben, Sie kriegen die Hälfte, wenn Sie uns nicht verpetzen.«
    Im nächsten Moment verstand ich, dass sie mir fünfhunderttausend Dollar anbot, was mir sofort trotz der Irrwitzigkeit der Lage eine gewisse Ehrfurcht einflößte.
    »Priscillas Vater ist ein Krimineller. Das Geld ist komplett schwarz verdient. Niemand weiß davon, außer Priscillas Eltern. Und uns. Und jetzt Ihnen … Niemand wird etwas zustoßen. Sie zahlen, und alles wird gut. Abgesehen davon hat Priscilla ein Anrecht auf das Geld.«
    »Ein Anrecht?«, fragte ich.
    »Sie stellt nur sicher, dass ihr Geld nicht anderweitig ausgegeben wird. Es ist ihr Erbe. Er ist ein Zocker. Denkt, er hat alles unter Kontrolle. Sie bekommt es eines Tages sowieso, wenn er es nicht vorher verspielt. Wenn ihre Eltern bezahlen, wird Priscilla bis morgen Abend zu Hause sein.«
    »Aber warum seid ihr beide verschwunden?«
    Sie zögerte einen Moment und meinte dann, »Zwei Entführungen klingen glaubwürdiger.

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