Der Schatten von nebenan - Roman
Sie war plötzlich kindlich ungeduldig, verspottete meine Worte. »Ja, sind Sie der Typ, der neben Greta wohnt?«
Es lief mir kalt den Rücken hinunter.
»Ich weiß nicht, was hier vorgeht, aber Greta wird gesucht.«
»Scilla. Ich heiße Scilla«, flüsterte sie.
»Scilla?
»Priscilla.«
Sie sah jünger und plumper aus als auf den Fotokopien, die überall in der Nachbarschaft hingen.
»Wer hält dich hier gefangen? Brauchst du einen Arzt?«, fragte ich.
Sie dachte einen Moment lang nach, aber dann schüttelte sie so energisch ihren Kopf, dass ihr braunes Haar in alle Richtungen flog.
»Ich möchte nach Hause gehen«, sagte sie und klang den Tränen nahe. Ich leuchtete mit dem schwachen Licht in ihr Gesicht, um zu sehen, ob sie verletzt war, doch sie drehte sich weg. Ihre Wangen schienen in der Dunkelheit schmutzig.
»Du kannst nach Hause gehen, natürlich. Aber wir müssen erst zur Polizei.«
»Nein. Nein. Nein«, antwortete sie alarmiert. »Bloß keine Polizei. Lassen Sie mich einfach gehen. Lassen Sie mich nach Hause. Ich bitte Sie.«
»Die Polizei sucht nach euch,« erwiderte ich.
»Nein, keine Polizei, bitte nicht«, flehte sie.
Das Mädchen erhob sich. Im Zimmer mit dem Fenster zur Feuerleiter drückte sie die Pappe beiseite. Vielleicht hatte ich Glück, und es würde auf der Straße unten gerade ein Streifenwagen vorbeifahren, dachte ich, als ich mich erhob und ihr folgte. Dafür, dass sie vor fünf Minuten an einen Stuhl gefesselt war, kletterte sie mit großer Behändigkeit hinunter. Als ich nach ihr die Straße erreichte, rannte sie bereits lautlos und schnell entlang der Laternen auf der Seventh Avenue.
»Priscilla, warte«, schrie ich, aber sie rannte und rannte. Es wäre lächerlich gewesen, ihr hinterherzulaufen. Die Taschenlampe sprang wieder an. Ich studierte das Papier im Fenster des Pizzarestaurants für einige Sekunden. Das Mädchen war in Wirklichkeit hübscher als auf dem Foto. Ich musste Palmer sofort erzählen, was ich entdeckt hatte. Ich wusste jetzt, dass irgendetwas nicht stimmte.
Ich eilte nach Hause und suchte nach der Visitenkarte mit der Nummer des Detectives. Sie war nicht im Flur, und ich konnte sie auch nicht in meinem Keller finden. Ich ging wieder nach oben und sah in der Küche nach. Ich eilte etwa zehn Minuten lang durchs Haus. Plötzlich erinnerte ich mich, dass ich die Karte im oberen Flur auf der Kommode liegen gelassen hatte, an der Stelle, wo Claire immer die Nummer für den Schlüsseldienst aufbewahrt. Ich wählte die Nummer, und gerade als das Telefon im Büro des Detectives klingelte, schellte unsere Türklingel einmal, zweimal, dreimal. Vielleicht war es Palmer, dachte ich. Ich legte den Hörer wieder auf die Gabel und eilte zur Tür.
Vor mir in der Dunkelheit stand Greta Amos. Ihr Haar war zum Pferdeschwanz gebunden, und sie atmete schwer, als wäre sie gelaufen.
»Greta?«
Ein Lächeln erschien auf dem jungen Gesicht des Mädchens. Der Donnerstagmorgen-Müllwagen polterte ungewöhnlich früh vorbei.
»Sind Sie allein?«, fragte sie.
»Ja, aber …«
»Kann ich reinkommen?«
Sie bewegte sich an mir vorbei, mehr tanzend als gehend, mich dabei nicht aus den Augen lassend, während sie sich einmal um ihre eigene Achse drehte. Kleine Schweißperlen standen auf ihrer Stirn.
»Alle Welt ist zu Tode besorgt, Greta«, sagte ich, »man sucht nach dir.«
Sie tanzte weiter ins Wohnzimmer. Dann stand sie still und sagte, »Ich weiß. Sie haben Scilla gefunden, nicht wahr. Sie hat es mir gesagt.«
Ein fast schüchternes Lächeln huschte über ihr Gesicht.
»Ich fand das arme Mädchen geknebelt und gefesselt. Der Teufel ist los, seit ihr zwei verschwunden seid. Ich hatte gerade vor, die Polizei anzurufen.«
»Rufen Sie nicht die Polizei«, sagte Greta mit einem Lächeln, und ihre Stimme klang tatsächlich so, als gäbe es dazu nicht die geringste Dringlichkeit. Sie sah hinunter und dann von ihren Füßen hoch. »Rufen Sie nicht die Polizei«, bekräftigte sie. »Scilla hat Recht. Das ist nicht notwendig. Es ist ja nichts passiert.«
»Nichts passiert? Deine Mutter ist bis auf die Knochen verängstigt. Deine Eltern denken, jemand hat dich entführt. Deine Mutter ist völlig mit den Nerven am Ende.«
Einen Moment lang schien sie verwirrt.
»Sie haben meine Mutter gesehen?«
Ich nickte.
Ihr Gesicht löste sich wieder etwas und sie sagte: »Kann ich etwas zu trinken haben? Und haben Sie vielleicht eine Kleinigkeit zu essen? Ich verhungere.«
Ich ging in
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