Der Schatten von nebenan - Roman
gewesen war, der schon halb vergessen ist, wenn sich die Augen öffnen, und der dann ganz im Morgenlicht entschwindet wie ein abreisendes Raumschiff. Aber die Erinnerungen schälten sich aus dem Nebel, gewannen wieder an Klarheit, und ich ging die Ereignisse nacheinander durch wie ein Ladenbesitzer, der seine Waren für die Inventur zählt.
Die Eichenblätter vor dem Fenster waren schon in Gold gefasst und versprachen den schönsten aller Herbste. Ich hatte vor, Claire um die Mittagszeit zu besuchen. Die Ärzte standen immer noch staunend vor dem, was ihr zugestoßen war, und die Tatsache, dass Claire als Phänomen betrachtet wurde, fügte sich ebenfalls in meine jüngsten Erlebnisse ein, ja, Gretas Plan und der so seltsame wie seltene Unfall von Claire schoben sich gegenseitig Glaubwürdigkeit zu.
Claire sagte am Telefon, sie sei den ganzen Nachmittag beschäftigt – das Krankenhaus bereitete sie auf ihre Reise vor, einige Tests mussten noch durchgeführt werden, und wir einigten uns darauf, dass ich heute nicht kommen würde und sie dafür am nächsten Morgen besuchen sollte. Zu meiner Überraschung erwähnte sie den Anruf in den frühen Morgenstunden nicht, vielleicht weil sie meine nächtliche Stimme selbst auf einen Traum zurückführte. Das gab mir etwas mehr Zeit zu überlegen, wie ich ihr erklären würde, was passiert war, denn ich verspürte das starke Verlangen, meine neu gefundene Sicherheit mit ihr zu teilen und sie einzuweihen. Aber ich wollte es richtig machen und dazu den besten Zeitpunkt wählen. In der Küche öffnete ich den Kühlschrank. Ich bereitete mir etwas Frühstück mit dem Rest der Pastrami und zwei von den vier noch vorhandenen Eiern. Ich beschloss, den Tag zu Hause zu verbringen, das Ende des Sommers durch das offene Fenster zu beobachten. Ich genoss das Aroma des frischen Kaffees, das sich in der Küche ausbreitete. Es war ein gemächlicher Tag, ein Tag wie in Zeitlupe, der langsam, aber ohne Ereignisse verstreicht. Der blaue Himmel mischte sich langsam mit Schwarz, ging über in die Nacht, als ob es nur zwei Farben in der Welt gäbe, Schwarz und Blau, doch dann wurde das Licht marmeladenrot, so wie es einmal im Jahr passiert, nicht länger als eine Minute, und unser Wohnzimmer tauchte für einen Moment in orange, bevor es in die Dunkelheit glitt, so als ob wir in den Lichtkegel von etwas Vorbeifahrendem geraten wären.
Am späten Nachmittag fing ich an, wieder durch einige Bücher meines Vaters zu blättern. Ich grub mich in diesen und jenen Absatz, und was ich las, schien wie durch das Prisma eines Neuanfangs betrachtet. Mit Vergnügen bemerkte ich, dass jedes Wort, jeder Satz lebendig schien. Die kleinsten Details pulsierten. Die Zeit verflog, und später am Abend öffnete ich eine Dose Gemüseeintopf und später noch eine Büchse mit Pfirsichen und sah mir im Fernsehen eine Episode von Kojak an. Kurz bevor ich zu Bett ging, rief ich Claire noch einmal an. Trotz des ruhigen Tages schlief ich in dieser Nacht tief, wie ein Mann nach einem Tag getaner Arbeit.
-4-
A m nächsten Morgen, es war der Samstag, weckte mich das Telefon.
»Palmer am Apparat. Ich rufe aus einer Telefonzelle aus der Seventh Avenue an … Ich hab noch ein paar Fragen. Kann ich vorbeikommen?«
»Jetzt?«, fragte ich erschrocken. Es war kurz nach acht.
»Bin in fünf Minuten oben«, sagte er und legte auf.
Mein Haar war vom Duschen nass, als es an der Tür klingelte. Ich sprang in eine Jeans, zog ein T-Shirt an und lief nach unten. Der Schmerz schoss von meinem Magen in meine Lungen. Es war, als ob ein Pfeil sich tief in meine unteren Eingeweide gebohrt hätte und mit großer Kraft hochgerissen würde. Ich musste in der Mitte der Treppe anhalten. Für den Bruchteil einer Sekunde verlor ich das Bewusstsein. Ich sah meinen gebrechlichen Vater vor mir, der seinen besten Anzug trug. Und schon im nächsten Moment war der Schmerz spurlos verschwunden. Ich ging weiter nach unten, öffnete die Tür und wischte den Gedanken weg, dass der Schmerz eine Art Warnung gewesen sein könnte.
»Sie sind weiß wie ein Laken«, sagte Palmer ohne Begrüßung.
Er hielt ein Papiertablett mit zwei Bechern Kaffee in seiner rechten Hand. Eine kleine Wachstüte baumelte von seiner Linken.
»Haben Sie schon gefrühstückt?«, fragte er und packte einen der Donuts aus der Tüte, das Tablett einhändig balancierend.
»Hier, nehmen Sie«, hielt er mir die Tüte hin und lächelte über seine stille Anspielung auf unser erstes Treffen,
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