Der Schatten von nebenan - Roman
Mädchen war tot. Alles andere ging an mir vorbei.
»Galvin, der Detective beobachtet dich, verstehst du nicht? Er sieht jede deiner Bewegungen. Er weiß mehr über dich, als du denkst. Er weiß mehr als ich.«
Die Welt, die ich mir ausgedacht hatte, verflüchtigte sich am Horizont. Was mir in dem Moment ins Gedächtnis schoss, war stattdessen ein Erlebnis in einem der billigen Restaurants in Chinatown, als ich mir den Tisch mit einem heruntergekommenen Mann geteilt hatte. Er war ungewaschen, unrasiert und enorm fett gewesen und trug seine Habseligkeiten in zwei großen Plastiktüten bei sich, die er dicht an die Wand gestellt hatte, um sie mit seinem großen Körper zu schützen. Er war über eine Suppe mit gerösteter Ente gebeugt, sein Körper versunken, der große Kopf direkt auf den fleischigen Schultern sitzend. Er schenkte mir keinerlei Beachtung, wie er auch niemanden sonst beachtete. Er hatte die ganze Flasche scharfe Sauce in seine Schüssel geleert, und die Schweißperlen auf seiner schmutzigen Stirn wuchsen alarmierend. Aber plötzlich legte er den Löffel nieder, hob seinen Kopf und starrte mich an. »Entschuldigung, Sir, aber wie bringt man Gott zum Lachen?«, fragte er. Verdutzt dachte ich erst, er spräche mit jemand anderem, oder auch mit sich selbst. Als ich nicht antwortete, sagte er, »So, Sie wissen es nicht.« Dann wandte er sich wieder seiner Suppe zu. »Wissen Sie es denn?«, fragte ich ihn zurück. Ohne mit der Wimper zu zucken, antwortete er: »Ich weiß es, jawoll, ich weiß, wie man Gott zum Lachen bringt.« Er machte eine Pause. »Wollen Sie es wissen?«, fragte er. Ich nickte. Nur – er sagte nichts weiter. Er nahm wieder seinen Löffel und aß die Suppe auf, als ob nichts passiert wäre, die Stücke der Ente mit den Fingern aus der Brühe fischend und die Knochen vorsichtig in seine Serviette spuckend. Sein Gesicht war jetzt vollständig nass. Nachdem er fertig war, legte er einen zerknüllten Fünfdollarschein auf den Tisch, griff sich seine Tüten und verschwand. Nie habe ich den Mann und seine traurigen Augen vergessen. Später hatte ich ihm sagen wollen, dass es nicht nur einen Gott gab, sondern viele Götter. Doch jetzt kam mir die einzig richtige Antwort. Man bringt Gott zum Lachen, indem man ihm von seinen Plänen erzählt. Nichts könnte ihn mehr amüsieren. Jeden Gott, egal welchen. Denn sie alle lieben einen guten Scherz, ja, sie lachen sich regelrecht kaputt darüber.
Eine Krankenschwester betrat den Raum. Als sie Claire weinen sah, zögerte sie erst. Ich hoffte, sie würde die Tränen einem Streit zuschreiben, diskret reagieren und wieder rückwärts aus dem Zimmer gehen. Sie blieb und sagte Claire, dass sie ins Büro zwei Stockwerke tiefer kommen müsse, um ihr Flugticket abzuholen, und um einige Papiere zu unterzeichnen, und wo ein paar Diagramme bereit lägen, die sie dem medizinischen Team in Arizona mitbringen müsse. Die Schwester wartete, um Claire zum Büro zu begleiten, sie tippte ungeduldig mit den Füßen, suchte das Zimmer mit den Augen ab und ließ sie auf dem gepackten Koffer ruhen.
»Miss, wir müssen los. Das Auto zum Flughafen steht auch schon bereit. Sie müssen sich beeilen.«
»Galvin, ich weiß nicht, was ich von all dem halten soll …«, sagte Claire.
»Miss«, insistierte die Krankenschwester.
Dann schlurfte Claire mit der Pflegerin davon, die ihre Taschen trug. Ich saß auf der schmutzigen Krankenhausmatratze im leeren Zimmer wie ein Hinterbliebener und wartete, bis der langsame Rhythmus ihrer Schritte verstummte, merkwürdigerweise ausgerechnet daran denkend, dass die Manuskripte, die Erika Edelweiss später vorbeibringen wollte, ihre Leserin nicht mehr erreichen würden.
-5-
E s war das Licht draußen, das mich daran erinnerte, dass Dinge einen Moment lang da waren und im nächsten Moment fort. Heute scheint die Sonne, morgen kann es neblig und verschneit sein, der Beginn eines langen, dunklen Winters. Vielleicht war das Mädchen nicht tot, kam es mir in den Sinn. War es möglich, dass Detective Palmer Claire belogen hatte? Die Polizei droht Verdächtigen manchmal mit Folter, um sie zum Sprechen zu bringen. Ich wusste aus Zeitungsartikeln, dass die Polizei in bestimmten Fällen sogar Wahrsager in festgefahrene Fälle einbezieht. Also warum nicht die Frau eines Verdächtigen über ein totes Mädchen belügen? Aber war ich denn überhaupt wirklich ein Verdächtiger? Das letzte Mal, als ich Palmer gesehen hatte, schien er zu dem Schluss
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