Der Schatten von nebenan - Roman
dachte nur, Sie hätten mich einmal gesehen.«
Plötzlich war sie in Eile. Ich folgte ihr zur Tür.
»Können Sie nachsehen, ob die Luft rein ist?«, fragte sie in einer Komplizenstimme.
»Wohin gehst du jetzt?«
»Ist besser, wenn ich Ihnen das nicht sage.«
Ich sah die Straße hinauf und hinunter. Sie war leer, und ich nickte Greta zu. Sie blickte mich ein letztes Mal an, wie um sich meiner zu vergewissern, und eilte dann Richtung Seventh Avenue. Ich sah ihr nach, bis sie um die Ecke gebogen war. Die Kirchturmuhr schlug zweimal. Ich fühlte mich seltsam verlassen in dem Moment, als ob ich gerade aus einem intensiven Traum erwacht wäre und nun in einem leeren Bett läge. Ich stieg die Treppe hoch, die an den üblichen Stellen knarrte. Vom Gästezimmer aus sah ich, dass Kate Amos immer noch auf dem Schreibtischstuhl ihrer Tochter saß. Erst bekam ich einen Schrecken. Ihr Kinn war tief nach unten gesunken, und sie schien seltsam leblos. Aus irgendeinem Grund aber wachte sie genau in dem Moment auf und hob ihren Kopf. Da fühlte ich mich für Kate Amos erleichtert. Und es kam mit aller Kraft über mich. Alle Ereignisse des Abends waren in der Tat gute Neuigkeiten. Ich überzeugte mich tatsächlich, dass es eine von diesen Situationen war, in der alle Beteiligten gewinnen würden, mit Ausnahme von Priscillas Vater, darüber war ich mir im Klaren, aber ich beschloss zu glauben, was Greta mir erzählt hatte, nämlich dass er ein herzloser Betrüger war. Denn man kann einfach nie gewinnen, wenn man sich nicht manchmal seine Gedanken zurechtlegt, sich selbst etwas vormacht.
Plötzlich trat David Amos in einem Pyjama in das Zimmer. Er sagte etwas zu seiner Frau, aber sie zeigte keinerlei Reaktion auf seine Worte. Eine halbe Minute später stand sie auf, Amos schaltete das Licht aus und beide verließen den Raum. Durch meinen plötzlichen Wissensvorteil empfand ich fast väterliche Gefühle für Amos und seine Frau, geradezu so, als hätte ich das Recht erworben zu sagen: Machen Sie sich keine Sorgen. Alles wird gut. Die Dinge werden sich am Ende geben. Wir alle werden weiterleben, als sei nichts Schlimmes geschehen, ja, sogar besser als zuvor und ohne jeden üblen Nachgeschmack.
Ich ging zu einem der Kartons meines Vaters und fing an, die Bücher durchzusehen. Bald fand ich, was ich suchte. Mit dem vor mir aufgeblätterten alten National-Geographic-Atlas rief ich Claire im Krankenhaus an. Nach ein paarmal Läuten nahm sie müde ab.
»Claire, wohin sagtest du wollen die Ärzte dich schicken?«
»Galvin? Warte, wie spät ist es?«
Es raschelte am anderen Ende der Leitung, als würde sie sich aufsetzen.
»Warte, lass mich das Licht einschalten«, sagte sie, und es entstand eine kleine Pause.
Ihre Stimme war heiser vom Schlaf. Sie mussten ihr ein Schlafmittel gegeben haben. Komm schon, Claire, dachte ich, schlaf nicht wieder ein, nicht jetzt, sag mir den Namen.
»Hier ist es. Eine kleine Stadt zwischen Tucson und Phoenix. Der Ort heißt irgendwas Valley«, sagte sie.
»Irgendwas Valley?«
»Nein, es ist kein Valley. Surprise heißt der Ort.«
»Surprise?«, fragte ich. Mein Finger lag auf der offenen Karte von Arizona.
»Das haben sie gesagt«, bekräftigte sie.
»Geh schlafen, Claire.«
Arizona war ein braunes Rechteck auf der Karte. Mit Hilfe des Inhaltsverzeichnisses fand ich eine Stadt namens Surprise, die zwischen einen Fluss und Berge gequetscht war, nicht weit von Tucson und nicht allzu weit von Phoenix. Eine kurvige Straße schlängelte sich hinein. Wenige Meilen hinter der Stadt endete die Straße ohne ersichtlichen Grund.
Claire hatte dreitausend Volt überlebt. Das war eine letzte Warnung für uns. Ich fühlte mich wie ein zurückgefallener Billardspieler, der sich plötzlich mit Geschick und Präzision auf seine letzten Stöße konzentriert. Ich stellte mir Claire und mich in einer Wüste lebend vor. Es gab keinerlei Widerstände gegen die Gedanken, alles floss reibungslos durch mein Gehirn, es war, als ob ein aufgegebener Plan plötzlich durch einen neu entdeckten Pfad zum Ziel führen sollte. Eine angenehme Ruhe überkam mich. Zum ersten Mal seit Monaten hatte ich keine Angst. Ich war nun ganz und gar überzeugt, dass die Dinge sich zu einem Guten ineinanderfügen würden, und ich fühlte mich zufrieden wie selten, als meine Augen schließlich schwer wurden und der Schlaf mich übermannte.
-3-
A ls ich am nächsten Morgen aufwachte, glaubte ich kurz, dass der vergangene Tag nur ein Traum
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