Der Schatten von nebenan - Roman
wurde aber gleich wieder ernst.
»Bin gekommen, um Ihnen zu sagen, dass mich da ein Stein im Schuh drückt«, sagte er und hielt seinen Blick eine Spur zu lange auf mich gerichtet.
»Gretas Vater sagte mir, dass Greta ihm erzählt hätte, wie Sie sie regelmäßig von einem kleinen Coffeeshop auf der 9th Street aus beobachtet hätten. Der Name ist Le Petit Café.«
»Das Café Petit auf der 9th Street und Fourth Avenue?«, fragte ich irritiert.
»Genau das«, bestätigte Palmer. »Nun, ich erinnere mich auch, wie Sie mir sagten, dass Sie sie das letzte Mal an der Ecke gesehen haben, richtig? Aber sehen Sie, Amos erzählte mir, Sie beobachteten Greta regelmäßig von diesem Coffeeshop aus. Das Mädchen hängt oft mit ihren Freunden an der Kreuzung herum, und von dem Café aus hat man gute Sicht. Das Merkwürdige ist nur, dass der Laden ganz neu renoviert ist. Ich kam heut früh dran vorbei und kaufte die hier.«
Er hob die Wachstüte und hielt sie mir fast direkt ins Gesicht.
»Parkett, kein Marmor mehr auf dem Fußboden. Schon lang nicht mehr das alte Brooklyn«, sagte er, »keine schmutzigen Fliesen und Aschenbecher, die in die Wand geschraubt sind. Naja, egal. Ich fragte die Verkäuferin hinter der Theke, ob das alles wirklich neu sei, nicht nur gereinigt, verstehen Sie? Sachen rausreißen, neue Schränke einbauen, diese Art. Roch nach frischer Farbe, alles wie aus dem Ei gepellt. Das Mädchen sagte mir, dass der Besitzer den Laden drei Wochen lang geschlossen gehabt hätte, um neue Fliesen zu legen und den ganzen anderen Kram aus- und einzubauen. Sie hätten gerade vor ein paar Tagen neu eröffnet. Ich überprüfte die Daten, und hier kommt das Seltsame. Die Neueröffnung fand an dem Tag statt, nachdem Mr. Amos die Vermisstenmeldung herausgab. Das Komische ist, dass Greta Amos erzählt hat, Sie hätten sie in der Woche vor ihrem Verschwinden jeden Tag von dem Coffeeshop aus beobachtet. Amos war sich da ganz sicher. Aber Sie konnten nicht dort gewesen sein. Der Laden war geschlossen.«
»Vielleicht hatte David Amos die Tage durcheinander gebracht?«, sagte ich zaghaft.
»Glauben Sie?«, fragte Palmer, »glauben Sie wirklich? Jedenfalls haben sie gute Donuts. Nicht sehr französisch, meine ich … Aber sagen Sie, haben Sie eine Ahnung, warum das Mädchen ihren Vater darüber belügen würde?«
»Vielleicht hat er einfach was verwechselt«, sagte ich wieder.
»Vielleicht.« Er sah mich an, zögerte, und fuhr dann fort: »Ja, schon möglich. Aber Sie hätten hören sollen, wie sicher er sich war.«
»Mr. Palmer?«
Er horchte auf.
»Vielleicht ist sie nur für ein paar Tage abgehauen. Das andere Mädchen auch. Vielleicht sind sie zusammen weggefahren, mit irgendeinem Kerl«, sagte ich.
»Nun, vielleicht«, entgegnete er ernst, »vielleicht. Wir werden es schon rausfinden. Sehen Sie, Sie haben sie beobachtet. Das haben Sie mir vorher gesagt. Sie haben das zugegeben. Aber warum sollte das Mädchen seinen Vater darüber belügen? Das ist es, was mich stört. Sie geben es zu, aber das Mädchen log. Das will mir einfach nicht in den Kopf.«
Damit stand er auf, verabschiedete sich, ging hinaus und schloss die Tür hinter sich. Palmer hatte eine Spur, verfolgte eine Fährte, deren Richtung ich nicht verstand. Ich begriff, dass er sich an dieser Frage festbeißen würde. Ich wusste, dass er ein ungutes Gefühl hatte wegen der vermissten Mädchen, und dennoch sah ich immer noch den Silberstreif am Himmel.
Ich schaltete meinen Verstand aus, so nah fühlte ich mich dem Ziel. Ich ging zurück in die Küche, trank den Kaffee aus und aß dazu einen der Donuts, die Palmer mitgebracht hatte. Nach dem Frühstück zog ich mich an, um die U-Bahn nach Manhattan von der Haltestelle Seventh Avenue zu nehmen. Ich erreichte West 4th Street um die Mittagszeit. Als ich um die Ecke nahe des Krankhauseingangs bog, sah ich ein Flugblatt an der Tür des Krankenhauses – Priscilla vermisst. Kurz schien ich in die Vergangenheit zurückbefördert, musste mich buchstäblich daran erinnern, dass es gerade erst einen Tag her war, als ich sie gesehen hatte, und dass das Mädchen in Sicherheit war. Ich hatte nicht daran gedacht, dass die ganze Angelegenheit längst über die Ränder meiner Welt geschwappt war. Ich betrat das Krankenhaus, ging durch die Lobby auf die Notaufnahme zu und nahm den leeren Fahrstuhl nach oben, und auf dem Weg nach oben vergaß ich auch Priscillas Zettel wieder.
Claires Krankenzimmer war leer und roch nach
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