Der Schatten von nebenan - Roman
gekommen zu sein, dass nicht ich, sondern Greta gelogen hatte. Oder hatte Palmer gar die Möglichkeit in Betracht gezogen, Amos hätte nicht die Wahrheit sagte? Und bei unserem ersten Treffen im Cup & Saucer Diner, wie hatte sich dieses ganze Frage-Antwort-Getue da abgespielt? Auch damals war Palmer nicht anklagend gewesen. Wenn er mich nicht für den Entführer hielt, wie konnte er mich dann für einen Mörder halten? Ich verstand, dass eine Ermittlung irgendwo beginnen musste, und zugegeben, nachdem Amos mein Interesse an ihm und seiner Familie erwähnt hatte, musste Palmer dem nachgehen. In welche Richtung ich mich auch drehte, wie auch immer ich es betrachtete, was geschehen war, schien nicht mehr Teil meiner Geschichte zu sein. Aber wessen Geschichte war es?
Ich stand langsam auf und verließ das Krankenzimmer, ging zum Fahrstuhl und drückte den »Abwärts«-Knopf. In der Lobby sah ich, wie ein streng dreinblickender Krankenhaus-Angestellter das Flugblatt von Priscilla von der Eingangstür entfernte.
»Haben Sie den Zettel aufgehängt?«, fragte mich der Mann scharf und riss mich aus meinen Gedanken, als er merkte, dass ich ihn anstarrte. »Wo kämen wir hin wenn wir zuließen, dass sämtliche Zettel vermisster Personen an unserer Tür enden.« Dann entfernte er das letzte bisschen Klebefilm mit dem zersplissenen Nagel seines Daumens. Wie konnte sie tot sein? Getötet. Es kam mir mit einem Mal, dass mit Ausnahme Gretas und des Mörders ich der Letzte gewesen war, der sie lebend in dem Apartment über dem Buchladen gesehen haben könnte. Und eine weitere Frage fiel mir siedend heiß ein. Warum hatte der Detective Claire gesagt, dass jemand sich in unserem Haus aufhielt? Wen glaubte er dort zu wissen? War das ein Trick? Ein gemeiner Plan, ein Stück Fehlinformation, das mich hinunterziehen und zu einer ganzen Reihe nachfolgender Fehler verleiten sollte? Ist es das, was der Detective denkt: dass Leute Fehler machen, wenn man sie mit falschen Informationen füttert?
Ich fühlte mich wie auf einem großen Karussell, das sich schneller und schneller drehte, bis es so schnell um die eigene Achse raste, dass es nur noch den Schluss zuließ, außer Kontrolle geraten zu sein. Ich versuchte, mich zu konzentrieren, meine Gedanken zu verlangsamen. Das arme Mädchen war tot, und Palmer erfand jemanden, einen Komplizen, der sich angeblich bei uns zu Hause aufhielt? Dieser bodenständige Detective würde so weit gehen und diesen geheimnisvollen Fremden erfinden? Aber mit welchem Ziel? Ich setzte mich auf eine Parkbank und dachte nach. Wenn man nur stark genug über etwas nachdenkt, kommt man einer Sache manchmal näher, findet die Antwort zu einer scheinbar unlösbaren Frage. Ich ging in Gedanken noch einmal Minute für Minute meine zwei Treffen mit Palmer durch. Ich wanderte weiter zurück in meine Vergangenheit, ein, zwei, drei und vier Tage. Und da, am vierten Tag, stieß ich auf die Antwort. Der Fremde, der zufällig in mein Leben getreten war. Randolph Durant. Es war erst ein paar Tage her, dass er auf unserer Türschwelle erschienen war, und der Name klang wie ein altes, fast vergessenes Lied, das an eine vergangene Zeit erinnerte, so viel war seitdem vorgefallen. Der Fremde aus Florida, der elegante Mann mit dem Klumpfuß, der mit dem schier unmöglichen Ziel in New York eingetroffen war, Erfundenes und Tatsachen zu entwirren. Jetzt wurde mir alles glasklar. Jemand musste gesehen haben, wie Durant letzten Dienstag mit seinem grünen Koffer in der Hand zu uns ins Haus gegangen war. Dieser Jemand musste gedacht haben, dass Durant bei uns untergekommen war, und dieser Jemand musste den Besuch dem Detective bei einer seiner Runden in der Nachbarschaft gemeldet haben. Durant war die einzige logische Erklärung. Und doch konnte ich immer noch nicht erkennen, warum Durant dem Detective so viel bedeutete. Und warum hatte er mich nicht während eines unserer Treffen über den Besucher befragt? Es gab nur eine Erklärung dafür. Erst hatte Palmer nach einem Entführer gesucht. Nun war er auf der Suche nach einem Mörder, und die Geschichte besaß immer noch zu wenig Figuren. Mit Durant hatte eine neue Person das Spielfeld betreten.
Was ich vor dem Krankenhaus erst für zwei Polizisten hielt, entpuppte sich als zwei uniformierte St. Vincent’s Sicherheitsmänner, die eine Zigarette rauchten. Ich drehte mich um und sah nach links. Ich drehte mich in die andere Richtung. Eine Gruppe Frauen unterhielt sich auf den Stufen des
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