Der Schatten von nebenan - Roman
Krankenhauses. Keine Polizei in Sicht.
Ich verstand, was ich als Nächstes zu tun hatte. Ich musste mit Amos reden, bevor Detective Palmer mich in die Hände bekam. David Amos musste direkt von mir hören, was passiert war. Ich musste die Angelegenheit so gut wie möglich in Ordnung bringen, indem ich meinen jetzt so offensichtlichen Fehler, ihn und seine Frau nicht alarmiert zu haben, gleich zugab. Ich war fest entschlossen, alles zu beichten, meine Dummheit zuzugeben. Jetzt, wo das Mädchen tot war, aus welchem Grund auch immer, war ich sicher, dass die Amos’ halb verrückt waren vor Sorge um ihre Tochter, und ich setzte darauf, dass David Amos verstehen würde. Ich würde ihm von meinem letzten Treffen mit seiner Tochter erzählen. Ich würde ihm von dem Apartment über dem Buchladen erzählen. Ich würde ihm von dem Plan erzählen. Vom Lösegeld. Von Arizona und von mir selbst. Ich würde ihm von meinen eigenen Geschichten, meinem Leben, meinen Anfängen und meinen Enden und dem Fehlen eines Mittelteils erzählen. Verdammt, dachte ich, ich würde mich ihm öffnen, und er würde verstehen. Ich beeilte mich und erreichte die Station auf der West 4th Street, und von der schläfrigen Dame in der Kabine kaufte ich ein paar Wertmarken. Ungeduldig wartete ich auf dem Bahnsteig. In der U-Bahn nahm ich in der Ecke unter einer American-Airlines-Reklame Platz, auf der Ferien an einem kristallklaren Ozean angeboten wurden, der fast so hell schimmerte wie die Luft. In den Stationen konnten die Türen nicht schnell genug aufgehen, und dann schienen sie für eine Ewigkeit geöffnet zu bleiben.
Als ich endlich in die Carroll Street einbog, duckte ich mich hinter einem geparkten Lastwagen, um in die Straße einzusehen. Der Bürgersteig war bis auf eine junge, müde aussehende Mutter, die einen Kinderwagen mit einem weinenden Baby in Richtung Prospect Park schob, menschenleer. Die Nachmittagssonne strahlte durch die Eichen- und Kastanienblätter und hüllte die Frau in ein eigenartig charmantes Nachmittagslicht. An allen Fenstern von Amos’ Haus waren die Vorhänge zugezogen oder Jalousien heruntergelassen. Ich versuchte, in eines der Fenster zu spähen, aber es war nichts zu sehen. Die inneren, hölzernen Fensterläden des Wohnzimmers waren dicht. Drei Zeitungen ragten aus dem Kellertürgitter. Ich ging zur Tür und klingelte, und dann gleich noch einmal. Ich wartete eine Minute, bevor ich aufgab und langsam nach Hause zurückging. In den Bäumen bereiteten sich einige singende Spatzen auf ihren Flug vor.
Die Tür fiel hinter mir mit einem Knall ins Schloss. Das Fenster zum Garten in der Küche war offen, und eine frühe Herbstbrise streifte mein Gesicht. Ich fühlte mich müde, durstig und rastlos. Ich war noch nicht einmal zehn Minuten zu Hause, als es an der Tür schellte. Ein zweites Klingeln folgte, lang und ungeduldig. Eine Schweißperle rann meinen Rücken hinunter. Ich schaffte es, mir vorzumachen, dass David Amos vor meiner Tür stehen würde. Als ich öffnete, steckte Detective Lewis Palmer seine Sonnenbrille mit den roten Gläsern in die äußere Tasche seines Anzugs. Ohne Begrüßung sagte er: »Wir haben das Mädchen gefunden.« Er sah sich mit schmalem Blick und einer tiefen Falte auf der Stirn um. Seine Augen wandten sich zu Amos’ Haus. Dann drehte er seinen Kopf zu mir. Auf seinen Wangen waren winzige rote Punkte vom Rasieren.
»Priscilla ist tot«, sagte er.
Meine Hände nestelten an einer Papierserviette, die ich aus der Küche mitgebracht hatte. Er kam die letzten Stufen hoch, und ich ließ ihn passieren. Dann folgte ich ihm in unsere Küche.
»Sind Sie alleine?«, fragte er.
»Ja«, antwortete ich.
»Wir fanden die Leiche des Mädchens diesen Morgen.«
Er schien von den Neuigkeiten aufgewühlt und wirkte weniger hartgesotten, als ich ihn bisher erlebt hatte.
»Ich habe noch nie Eltern gesehen, die sich vom Verlust eines Kindes erholt hätten. Eltern sollten ihr Kind nicht unter Umständen wie diesen beerdigen müssen.«
Er sah mich etwas zu lange an, wie es zu seiner Angewohnheit geworden war.
»Ein Jogger fand sie heute Morgen im Park, festgebunden an einem Baum. Wir konnten keine Wunden an ihrem Körper feststellen. Wir sind nicht absolut sicher, wie sie gestorben ist, bis wir den Bericht vom Gerichtsmediziner haben. Um die Wahrheit zu sagen, mir scheint, als sei sie erstickt. Ich sah keine Flecken auf ihrem Hals, aber … ich glaube: Jemand steckte ihr etwas in den Mund, hielt ihre Nase zu
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