Der Schatten von nebenan - Roman
sich einverstanden erklärt, nicht zu uns oder zur Polizei zu gehen, als Sie Priscilla fanden? Nichts weiter hätte geschehen müssen. Greta hätte eine Verwarnung erhalten, und das wäre alles gewesen. Ihre Mutter und ich wären erschüttert gewesen, sicher. Aber mit der Zeit hätten wir uns davon erholt. Wir wären in der Lage gewesen, die Sache hinter uns zu lassen, die Geschichte abzuheften als eine Art jugendliche Dummheit, die am Ende sogar Gretas Beurteilungskraft schärfen und unsere Tochter zu einer besseren Erwachsenen machen hätte können. Irgendwie hätten wir den Sprung hingekriegt. Ein Polizist wäre gekommen – dieser Mann, Palmer, vielleicht – und hätte mir gesagt, ich solle sie ein wenig ohrfeigen, ihr rechts und links eine verpassen. Ich hätte ihm geantwortet, ich würde sie ohrfeigen, und er hätte sich an ihr hübsches Gesicht erinnert und hätte sich schuldig gefühlt und gesagt, aber nicht zu fest, ohrfeigen Sie sie nicht zu fest. Und er hätte mich daran erinnert, dass nicht wirklich etwas Schlimmes geschehen war.«
Er unterbrach und sah mich an. Dann bekräftigte er: »Und er hätte Recht gehabt. Der Mann hätte vollkommen Recht behalten. Warum sind Sie nicht zur Polizei gegangen? Oder haben mit uns geredet?«
»Sie bat mich, es nicht zu tun«, antwortete ich, im vollen Bewusstsein, wie unzulänglich diese Antwort war.
»Nun ja, es ist jetzt sowieso zu spät. Wir können nichts ändern. Wir können nur in die Zukunft blicken«, sagte er und begann, seine Schläfen zu massieren.
»Wissen Sie, wenn man erstmal ein Kind hat, denkt man nicht an all die guten Dinge, die ihm zustoßen können. Man denkt an all das, was schief gehen kann. Man denkt an einen endlosen Aufmarsch von Schwierigkeiten. So erleben die meisten Menschen die Geburt eines Kindes. Aber ich sollte das wahrscheinlich nicht sagen, denn ich kann nicht für alle Welt sprechen. Aber so empfand ich die Geburt meiner Tochter. Ich war ängstlich. Wissen Sie, es ist wahrscheinlich nicht richtig, dass mehr Dinge schief gehen können als glatt, aber wenn etwas schief läuft, bemerkt man es sofort. Von dem Moment ihrer Geburt an habe ich Stunden damit verbracht, Greta anzusehen. Ich verbrachte wertvolle Zeit damit, vor ihrer Wiege zu sitzen, Zeit, die ich zum Schreiben hätte nutzen können. Ich glaube dennoch nicht, dass ich je eine ausfüllendere Beschäftigung gefunden habe. Die guten Zeiten des Schreibens, ja. Gute Zeiten des Schreibens sind gute Zeiten. Man sehnt sich nach ihnen. Aber sie sind nicht dasselbe wie glückliche Zeiten. Die Stunden mit meinem Kind waren glücklich. Für eine Weile dachte ich sogar, ich könnte ohne das Schreiben auskommen.«
Natürlich war mir bewusst, dass Amos nach Gretas Geburt Bücher veröffentlicht hatte, nicht nur »River Blue«, also wusste ich ganz sicher, dass er das Schreiben nicht aufgegeben hatte. Das Gespräch führte woandershin.
»Man hat jeden Tag nur eine bestimmte Menge an Zeit zur Verfügung«, fuhr er fort, »und ich habe mein ganzes Leben immer bewusst entschieden, wie ich mit dieser Zeit umgehe. Wenn ich keine Zeit an meinem Schreibtisch verbrachte, wurde ich unruhig, ungeduldig. Ich habe mich immer auf dieses Bedürfnis verlassen, mich hinzusetzen und zu schreiben. Ich setzte mein Leben darauf, denn nur so empfand ich Sinn und Zweck für mein Dasein. Ich gab mich dem Schreiben hin, schob alles andere beiseite, bis es nichts mehr gab, was ich beiseite schieben konnte. Ich habe dieses Bedürfnis sogar begrüßt, schließlich gab es mir eine Richtung. Es schuf mich. Ich wurde, was ich war. Ein Mann an einem Schreibtisch. Ich fing an, auf meine Körperhaltung zu achten, um zu sehen, ob sie Beleg dafür geworden war, wo ich hingehörte, ob sie zeigte, dass ich jemand war, dessen natürlicher Platz sich eingeklemmt zwischen einem Stuhl und einem Schreibtisch befand. Ich sah mir andere Schriftsteller an, um zu sehen, ob ich diese Körperhaltung entdecken konnte. Ob ich mir den gebeugten Gang von jemandem angeeignet hatte, der wie ich war und fühlte. Aber mit der Geburt meiner Tochter wurde der Schreibtisch ein ferner Ort für mich. Und somit wurde ich mir für eine Weile selbst fern. Und das machte mich am Ende zu einem besseren Schriftsteller. Wissen Sie, ich schuf sie. Ich machte Greta, aber sie machte auch mich. Ich erinnere mich gerne an die Tage nach ihrer Geburt. Es war eine endlos glückliche Zeit damals. Sie würden nicht glauben, wie alles, was mit einem Kind zu tun
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