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Der Schatten von nebenan - Roman

Der Schatten von nebenan - Roman

Titel: Der Schatten von nebenan - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Saur
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trug die blaue Weste, mit der ich ihn oft während der bedeckteren Tage im Sommer gesehen hatte.
    »Würden Sie auf einen Sprung rüberkommen? Es wird Zeit, dass wir uns unterhalten«, meinte er. Er machte eine einladende Bewegung mit einem Arm, und er verlieh dem Augenblick den Charakter einer freundlichen Einladung, als er mir einen Scotch anbot. Ein Mann, dick um die Hüfte, ging langsam vorbei und starrte uns beide unbekümmert an.
    Ein paar Augenblicke später betrat ich zum zweiten Mal in meinem Leben das Haus von David Amos.
    »Kommen Sie und setzen Sie sich, bitte«, sagte er und deutete ins Wohnzimmer.
    Wenn Amos dachte, ich hätte etwas mit Gretas Verschwinden zu tun, würde ich seine Angst spüren, dachte ich, seine Wut, oder auch nur seine Verzweiflung. Doch ich fühlte nichts dergleichen.
    »Der Scotch ist siebzehn Jahre alt«, sagte Amos und hob beide Augenbrauen. Das gleiche Alter wie Greta, dachte ich augenblicklich.
    Ich bat ihn um ein Glas Wasser anstatt des Whiskys. Ich hörte, wie in der Küche Eis zerstoßen wurde, während ich mich im Wohnzimmer umsah. Der hölzerne Boden glänzte lackiert, die Wände waren außerordentlich weiß. Alles war so perfekt, so sauber wie bei meinem ersten Besuch. Aber seine Anwesenheit veränderte den Raum. Eine andere, intensivere Stimmung hatte von dem Zimmer Besitz genommen. Wenn ich später zurückdachte, war ich erstaunt, wie lebhaft ich Details von diesem zweiten Besuch in Erinnerung behalten hatte, fast so, als hätte ich die wichtigsten Jahre meines Lebens in diesem Zimmer verbracht. Es erstaunt mich noch immer, dass ich in meiner Erinnerung in den Wochen und Monaten nach meinem Besuch Dinge in dem Zimmer sah, die ich nicht bewusst bemerkt hatte, als ich dort gewesen war. Zum Beispiel war da ein Mini-Samurai aus Holz in einem Regal, und das Bild springt auch jetzt präzise wie eine Fotografie in meine Erinnerung. Dann war da eine Bleistiftzeichnung von Hemingway auf dem Kaminsims, in Silber gerahmt. Auf dem hinteren Tisch stand eine große Schüssel mit vier Äpfeln. Aus einem fehlte ein großer Bissen, und das Fruchtfleisch hatte sich bereits braun verfärbt. Ein roter Buddha saß in einem Bücherregal. Vor ihm lagen drei perfekt aussehende Orangen. Ihm fehlte ein Arm.
    Amos kam mit zwei Kristallgläsern in der Hand zurück. Das hohle Eis im Glas klinkerte, als er es mir reichte. Der Geruch gekochten Lamms kitzelte meine Nase, vielleicht noch aus der Zeit bevor Greta verschwand.
    »Setzen Sie sich bitte«, sagte er und zeigte auf die cremefarbene, fleckenlose Couch.
    Da war auch wieder der schwache Geruch von Zigarettenrauch in der Luft. Ich legte zwei der Kissen beiseite, um Platz zu schaffen, und setzte mich. Amos nahm in dem Ledersessel Platz, in dem ich beim letzten Mal gesessen hatte. Er sah mich an, nippte an seinem Drink und stellte das Glas auf den Kaffeetisch neben dem Sessel. Die zwei oberen Knöpfe seines weißen Hemdes standen offen und ich konnte sein scharfes Brustbein erkennen. Blaue Venen liefen unter der Haut. Die gleichen kleinen Venen hatte er unter den Augen. Amos lehnte sich nach vorn, faltete beide Hände zu einer großen, unnützen Faust. Seine Stirn legte sich in Falten. Seine Augen durchbohrten mich.
    »Mr. Shelby, es hat keinen Sinn, um den heißen Brei herumzureden. Ich weiß, was passiert ist. Ich weiß, dass meine Tochter Ihnen eine Partnerschaft anbot in dieser, dieser … Wie soll ich es nennen?«
    Er überlegte.
    »Nein, Dummheit ist der falsche Ausdruck. Ich will Sie keineswegs beleidigen. Nennen wir es eine Partnerschaft.«
    Seine Stimme war gleichmäßig, tief und voll. Er nahm das Glas und trank seinen Scotch in einem langen Zug leer. Das Eis hinterließ ein Glänzen auf seinen Lippen.
    »Sie haben keine Kinder, oder?«, fragte er plötzlich. Ich verneinte, noch einmal verblüfft, mit welcher Leichtigkeit das Gespräch seinen Anfang nahm, verwirrt auch davon, dass mir keinerlei Feindseligkeit entgegenschlug, irritiert, in diesem Haus plötzlich scheinbar willkommen zu sein, aber auch verstört darüber, wie viel Amos wusste.
    »Aber vielleicht können Sie es trotzdem beurteilen. Ich frage Sie: Muss ein Kind für einen Fehler bezahlen, bis es alt ist? Wie schuldig ist ein Kind? Wie schuldig kann ein Kind überhaupt sein?«
    Ich dachte darüber nach, dass das Gesetz aus gutem Grund Kinder nicht wie Erwachsene behandelte.
    »Wissen Sie, da gibt es diese eine Sache, die bekomme ich nicht in meinen Kopf hinein. Warum haben Sie

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