Der Schatten von nebenan - Roman
hat, so einnehmend, so unglaublich lebensintensiv wird. Die Bewegung eines kleinen Fingers, der Klang eines Furzes, ein Haar, dass anders vom Kopf steht als die anderen, Nasenbluten, ein gebrochener Fußnagel, ein Pickel, die nur eingebildete Unregelmäßigkeit zwischen zwei Herzschlägen. Man beobachtet diese Dinge mit Sorgfalt und mit Sorge. Es trainiert dich, ja, das Kind trainiert dich, verwandelt dich in einen Perfektionisten. Man wird so sensibel gegenüber diesem kleinen Geschöpf, so besorgt, denn tatsächlich, es wächst zu einer ständigen Sorge, dass alles und jedes dein kleines Baby aus dem Gleichgewicht bringen könnte.«
Wieder legte er eine Pause ein.
»Wissen Sie, was ich jetzt sage klingt – ist – gewaltig, aber so ein Kind ist wie der Anfang eines großartigen Romans.«
Damit stand Amos auf und ging in die Küche, um sich noch einen Scotch zu holen. Er leerte das Glas sofort, nachdem er sich wieder im Sessel niedergelassen hatte.
»Wenn das erste Wort eines Buches auf der ersten Seite erscheint, sieht das zunächst unbedeutend aus. Aber dann kehrt man am nächsten Tag an seinen Schreibtisch zurück, und am Tag danach wieder, und das Buch wächst und gedeiht, und mit jedem Tag wird es mehr und mehr Teil deines Lebens. Man entwickelt eine Routine und versucht, einen Kurs beizubehalten. Am Anfang ist man pausenlos besorgt, denn man weiß, ein einziges falsches Detail reicht aus, um das Buch vom Kurs abzubringen. Und man weiß nicht, wo das nächste Buch ist, nachdem man dieses verloren hat. Also wird man vorsichtig.«
Er verkürzte die Pausen zwischen den Sätzen. Als ich ein Kratzen in meinem Hals spürte und hustete, zeigte er sich aufmerksam.
»Hier, bitte, trinken Sie das Wasser«, sagte er und stand auf, um mir ein zweites Glas aus der Küche zu holen. Dann fuhr er fort. »Falls ein Buch misslingt, weiß man nicht, ob es da überhaupt noch einmal ein nächstes Buch gibt. Manchmal atmet ein Buch kaum, aber man macht weiter. Das ist alles, was man tun kann. Aber dann geschieht etwas. Mit der Zeit, und nachdem man eine Routine entwickelt hat, fängt das Buch an zu leben. Es lebt, und man wird sorgloser wegen der falschen Details, denn man erkennt, dass solche Details das Buch vielleicht beschädigen, aber nicht mehr vernichten können.«
Einen Moment lang blickte er zur Decke.
»Ich hoffe, ich langweile Sie nicht. Wissen Sie, darin liegt nämlich noch eine Analogie zu einem Kind. Auch mit einem Kind wird man sorgloser. Langsam gibt man die Kontrolle auf, denn man weiß, man kann nicht alles kontrollieren. Man bemerkt einen kleinen Schaden, nur ganz entfernt spürt man ihn wie das Pochen eines beinahe vergessenen Schmerzes, aber man macht weiter und hofft auf das Beste. Und man möchte glauben, dass das Kind am Ende auf sich gestellt ist und es da draußen in der Welt schafft, ohne dass man jeden Schritt begleitet, jeden der Schritte beeinflussen will.«
Er pausierte, stand wieder auf und ging zur Küche. Jetzt kam er mit der ganzen Flasche Chivas-Regal-Scotch zurück. Er goss sich noch einen ein und machte sich nicht die Mühe, mehr Eiswürfel hineinzugeben, sondern mischte den Whisky mit den bräunlichen Rückständen des geschmolzenen Eises.
»Natürlich werden einige Menschen denken, dass der Unterschied zu einem Roman der ist, dass man mit ihm verbunden bleibt. Aber wissen Sie, was Sie sind? Sie sind ein Werkzeug. Nichts weiter. Wenn Sie die Worte nicht tippen, tut es niemand. Das Buch würde nicht geschrieben werden. Also tippt man und wird zum Boten … Möchten Sie jetzt einen?«, sagte er, nachdem er sein Glas wieder halb voll gefüllt hatte. Diesmal stellte Amos die Flasche auf den Seitentisch neben sich. »Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie Ihre Meinung ändern.«
-7-
D avid Amos balancierte das halb volle Glas in seiner linken Hand. Er saß wie ein Mann, der es pflegte, Ratschläge zu erteilen, jemand, der es gewohnt ist, dass man ihm zuhört. Mich warnten aber seine unruhigen Augen. Sie verdrängten die Neugierde, die ich noch vor wenigen Minuten empfunden hatte und versetzten mich nun in einen Zustand ängstlicher Erwartung, was folgen sollte.
»Wegen Greta«, sagte er dann und strich über einen kleinen Leberfleck auf seiner Wange. Anstatt sofort fortzufahren, schüttete er den Scotch in einem Zug hinunter und schenkte sich noch ein Glas ein. Wenn ich recht gezählt hatte, war dies Nummer vier. Mir kam kurz in den Sinn, dass Amos bald betrunken sein würde, wenn er so
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