Der Schatten von Thot
Hitze um die Wirkung des Alkohols bestellt war, entkorkte er die Flasche, um sie – wie er es nannte – atmen zu lassen. Zum Dinner wollte er sie eigentlich reichen, um das Jahresende wie ein halbwegs zivilisierter Mensch zu begehen, aber es kam anders. Fox konnte nicht widerstehen, den Tropfen vorab zu kosten, und noch ehe er recht begriff, wie ihm geschah, hatte er in einem Anfall von Heimweh die ganze Flasche geleert. Die Folgen waren unausweichlich, und so kam es, dass der Inspector von Scotland Yard die letzten Stunden des Jahres 1883 schlafend in seinem Zelt verbrachte.
Obwohl ihr klar gewesen war, wie die Sache enden würde, hatte Sarah ihn gewähren lassen. Fox hatte sich beim Ritt durch die Wüste als zäher erwiesen, als sie ihm zugetraut hatte, und obwohl sie anfangs erbitterte Gegner gewesen waren, hatten die Archäologin und der Ermittler von Scotland Yard in schweigendem Einvernehmen das Kriegsbeil begraben – was vielleicht auch damit zusammenhing, dass die Vorfälle in Kairo sowie die Ereignisse von Hermopolis Sarahs wagemutige Theorien bestätigt hatten.
Was blieb, war das Wissen, dass sich ein Verräter in den eigenen Reihen befand, und noch immer hatte Sarah keine Ahnung, wer es nun tatsächlich sein mochte. Den ganzen Abend über, während sie sich selbst und ihre Kleider einer gründlichen Reinigung unterzog, dachte Sarah darüber nach, suchte im Verhalten ihrer Begleiter nach einem Hinweis, der auf die Identität des Verräters schließen ließ. Aber wie schon so oft zuvor brachte das Nachdenken auch diesmal keine Lösung.
Als Sarah zum Lager zurückkehrte, wo Kamal ein Feuer entfacht hatte und in Streifen geschnittenes Hammelfleisch briet, fand sie dort nur Sir Jeffrey vor. Das Schnarchen, das aus Milton Fox’ Zelt drang, ließ darauf schließen, dass der Inspektor noch immer seinen Rausch ausschlief, während Hayden bei seinen Leuten auf Wache war. Die Dämmerung hatte eingesetzt und tauchte den westlichen Horizont in leuchtendes Orange, gegen das sich die schlanken Silhouetten der Palmen scharf abzeichneten.
»Es ist schön hier«, stellte Sir Jeffrey fest, der auf einem Klappstuhl saß und sich die untergehende Sonne ins Gesicht scheinen ließ. »Fast könnte man vergessen, dass ringsum das Verderben lauert.«
»In der Tat.« Sarah, deren Haar in nassen Strähnen auf die Schultern fiel, setzte sich ebenfalls.
»Der gute Mortimer hat nicht übertrieben«, sagte Sir Jeffrey.
»Inwiefern?«
»Als er sagte, dass Sie die beste Hilfe wären, die wir bekommen könnten, meine Teure. Ich muss zugeben, dass ich zunächst skeptisch war, schließlich…«
»… bin ich eine Frau«, brachte Sarah den Satz zu Ende, als der königliche Berater höflich ins Stocken geriet. »Sprechen Sie es getrost aus, Sir Jeffrey. Ich bin nun einmal, was ich bin.«
»Vielleicht, Lady Kincaid. Aber Sie sind anders als jede andere Frau, die ich bisher in meinem Leben kennen gelernt habe. Sie wissen genau, was Sie wollen, und Sie verfolgen dieses Ziel mit unnachgiebiger Härte. Sie werden zugeben, dass diese Eigenschaften gemeinhin eher Männern zugeschrieben werden.«
»Wohl wahr, Sir Jeffrey – aber es waren Männer, die derlei Maßstäbe angesetzt haben. Ich denke nicht, dass wir Frauen dabei je nach unserer Meinung gefragt wurden.«
»Möglicherweise haben Sie Recht.« Sir Jeffrey nickte. »Vermutlich bin ich zu alt dafür, aber ich nehme an, es werden Generationen kommen, die weniger borniert sind, als ich es gewesen bin. Ich gebe zu, Lady Kincaid, dass ich anfangs von Ihren Theorien nicht allzu viel gehalten und nur Ihrem Vater und Ihrem Patenonkel zuliebe an dieser Expedition teilgenommen habe. Aber trotz aller Entbehrungen, die hinter uns liegen, habe ich es nicht bereut. Und ich gebe gerne zu, dass ich im Unrecht gewesen bin und Sie im Recht. Können Sie einem törichten alten Mann verzeihen?« Der königliche Berater lächelte.
»Sir Jeffrey«, sagte Sarah mit gespielter Strenge. »Wüsste ich es nicht besser, würde ich sagen, Sie nutzen die Gunst des Augenblicks, um mir auf schamlose Weise Avancen zu machen.«
»Das macht die Hitze«, erwiderte Sir Jeffrey schulterzuckend, und beide lachten. Kamal brachte ihnen Fladenbrot und Fleisch, dazu aßen sie Käse und frische Datteln, und beide waren der Ansicht, dass es das beste Silvesterdinner war, das sie je zu sich genommen hatten. Gegen elf Uhr – in Baharia war es bereits still geworden – begab sich Sir Jeffrey zur Ruhe.
»Wollen Sie denn
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