Der Schatten von Thot
Tage und fünf Nächte reiten, um zu jenem sagenumwobenen Ort zu gelangen, an dem der Priester Tezud und die Seinen einst die geheimen Schriftrollen versteckt haben.
Da es zu gefährlich wäre, bei Dunkelheit zu reisen, bin ich mit Captain Hayden übereingekommen, dass wir nur bei Tage reiten. Die Strecke, die vor uns liegt, hoffen wir in zwölf Etappen zu bewältigen – zwölf Etappen, die uns mitten in die Glut der Libyschen Wüste hineinführen werden und in ihre tödlichen Gefahren.
Unter den Kameltreibern und Gräbern herrscht Unruhe. Wie Kamal mir verraten hat, machen Gerüchte die Runde, dass die Expedition unter einem schlechten Stern stünde und von den alten Göttern verflucht worden sei, an deren Existenz hier draußen noch mancher glaubt…
31. D EZEMBER
Die Wüste!
Wer dieses so unscheinbare Wort in der Geborgenheit seiner vier Wände liest, womöglich am heimischen Kaminfeuer, der hat keine rechte Vorstellung davon, was wir hier durchleben.
Mit den ersten Strahlen, die die Sonne über den Horizont schickt, weicht die blaue Dunkelheit und verwandelt das endlos scheinende Meer der Dünen wieder in jene Gluthölle, die uns nun seit Tagen in ihren Klauen hält.
Während unsere Kamele wie auch die Treiber die Hitze und die allgegenwärtige Ödnis mit Gleichmut hinnehmen, lastet sie schwer auf meinen Gefährten und mir. Da während des Ritts kaum gesprochen wird, ist jeder sich und seinen Gedanken überlassen, und ich beginne zu begreifen, was die Beduinen meinen, wenn sie sagen, dass in der Wüste ein jeder dem begegnet, was er einst zurückgelassen hat.
Vor der Allmacht der Wüste, in der ein Menschenleben nicht mehr bedeutet als ein winziges Sandkorn, verblasst aller Schein, und der Mensch wird reduziert auf das, was er ist: eine schwache, zerbrechliche Kreatur, die inmitten dieser lebensfeindlichen Umgebung keine drei Tage ohne Wasser überleben könnte. Ein Ort des Todes und der Gefahr – aber auch berückender Schönheit.
Sanfte, sichelförmige Dünen, deren Kämme im Licht der untergehenden Sonne wie Kaminglut leuchten, wechseln sich mit bizarren Formationen aus Fels und Kalk ab; Türmen und Monumenten, die nicht von Menschenhand, sondern allein durch den Wind geformt wurden.
Hin und wieder entdecken wir, halb bedeckt vom Sand der Wüste, die Überreste von Dörfern und Ruinen aus alter Zeit, stumme Zeugen, dass hier einst fruchtbares Land gewesen ist. Die Menschen mögen geflohen sein, aber Leben gibt es noch immer: Wüstenraben steigen am Morgen kreischend in den Himmel, Steinlerchen umflattern die Felsentürme, und im Sand finden wir die Fährte der Hornviper, deren Biss von Menschen wie Tieren gleichermaßen gefürchtet wird.
Obwohl ich die Wüste schon früher bereist habe, nehme ich sie dieses Mal mit größerer Klarheit wahr als je zuvor. Vielleicht muss man Verlust erfahren haben, um dieses karge, tote Land zu begreifen. Dennoch sehne ich mich nach Leben und danach, meine Hände in kühles Wasser zu tauchen – und ich wünsche den Augenblick herbei, in dem die Palmenhaine der Oase Baharia zwischen den Dünen auftauchen werden…
L IBYSCHE W ÜSTE
31. D EZEMBER 1883
»Wissen Sie, was ich nicht begreife?«, fragte Milton Fox, der auf dem Rücken seines Kamels einen ziemlich elenden Anblick bot.
Der khakifarbene Anzug des Inspectors war von Schweiß durchsetzt, seine von der Sonne geröteten Züge staubbedeckt. Die Brille, die er die meiste Zeit über als Schutz vor Wind und Sand trug, hatte über seinen Augen zwei bleiche, rot geränderte Flecken entstehen lassen, die Fox seinem Namensvetter aus dem Tierreich noch ein ganzes Stück ähnlicher machten.
»Was begreifen Sie nicht, Inspector?«, hakte Sarah nach, der die Frage gegolten hatte. Auch ihre Kleidung war staubig und verschmutzt, aber das Tuch, das sie nach arabischer Art um Kopf und Hals geschlungen trug, hatte ihr Gesicht wirkungsvoll geschützt.
»Wir sind nun seit fünf Tagen unterwegs«, rechnete Fox vor, »aber ich wette, wir hätten bereits die doppelte Strecke geschafft, wenn wir nicht ständig Umwege in Kauf nehmen würden.«
»Umwege, Inspector?«
»In der Tat. Dieser Kamal, auf den Sie so große Stücke halten, scheint nicht recht zu wissen, wohin er will. Einmal schlägt er nördliche Richtung ein, dann wieder südliche, und das, obwohl wir eigentlich nach Westen wollen. Das ergibt keinen Sinn. Warum in aller Welt richten wir uns nicht einfach nach dem Kompass, wie man es in
Weitere Kostenlose Bücher