Der Schatten von Thot
allein war inmitten der endlosen Leere, dass ihr Vater von irgendwo dort auf sie herabblickte und sie begleitete.
Anhand der Notizen aus Hermopolis gelang es ihr, sich einmal mehr am Polarstern zu orientieren und die Marschrichtung festzulegen. Zurückzugehen, wie Haydens Späher es gefordert hatte, kam nicht in Frage – wenn Sarah noch eine letzte Chance haben wollte, Thots Schatten zu finden, würde sie den direkten Weg über die Berge nehmen müssen, was bei Dunkelheit ein höchst gefährliches Unterfangen war. Lockeres Geröll und Felsspalten würde sie vielleicht viel zu spät bemerken, von Schlangen und Skorpionen ganz zu schweigen.
Der Gedanke, sich nach Süden zu wenden und zu versuchen, eine der dort gelegenen Oasen zu erreichen, kam Sarah flüchtig in den Sinn. Aber ohne Kompass und entsprechendes Kartenmaterial waren ihre Chancen, Farafrah oder Nesla zu finden, entmutigend gering.
»Nein«, sagte sie, um sich mit ihrer eigenen Stimme Mut zu machen (tatsächlich erschrak sie über deren heiseren, krächzenden Klang), »ich bin nicht hierher gekommen, um auf der Suche nach Wasser zu verdursten. Ich will die Wahrheit über Thoths Geheimnis erfahren, und wenn es das Letzte in meinem Leben ist.«
Sie griff nach dem Revolver, der noch in ihrem Holster steckte und den sie während des langen Tages von Staub und Sand gereinigt hatte. Im Kampf gegen die Wüste war die Waffe freilich nutzlos, doch wenn es darum ging, einer Verdurstenden die letzten Qualen zu ersparen, so würde sie von großem Vorteil sein…
Sarah prüfte die Verschnürung ihrer Stiefel und den Sitz ihres Waffengurts, gönnte sich einen stärkenden Schluck Wasser. Dann, als das letzte Stück gleißender Sonne am Horizont verschwand, trat sie den Marsch über die Berge an.
Zum Licht der Sterne gesellte sich der fahle Schein des sichelförmigen Mondes, der hoch über den Dünen stand und sie mit blauem Licht bestrich. Leichter Wind kam auf, der nach der Hitze des Tages willkommene Abwechslung bedeutete.
Nach einem ersten steilen Aufstieg, der über vom Sand glatt geriebenes Gestein und zwischen den verfallenen Mauern der alten Festung hindurchführte, verflachte das Gelände ein wenig. Einen Pfad gab es nicht; Sarah musste ihren eigenen Weg suchen, und je weiter sie den Berg hinaufstieg, der sich wie der Rücken eines riesigen, steinernen Krokodils aus den Dünen erhob, desto bizarrer wurden die Formationen, die der Wind aus dem Gestein gemeißelt hatte.
Felsnadeln reckten sich wie abgestorbene Bäume in den Nachthimmel. Mehrmals zuckte Sarah zusammen, wenn sie eine schwarz vermummte Gestalt zu erkennen glaubte – um jedes Mal erleichtert zur Kenntnis zu nehmen, dass es nur toter Fels war, der sie genarrt hatte. Dennoch fühlte sie sich innerlich unruhig und beobachtet, und während ihr Verstand den Grund dafür in ihrer Erschöpfung suchte, wurde sie dennoch das Gefühl nicht los, dass jemand ihr durch die nächtliche Wüste folgte.
Jemand – oder etwas…
Sarah schüttelte den Gedanken ab und konzentrierte sich auf den Marsch. Ihr Weg führte über loses Geröll steil nach oben, und sie musste auf der Hut sein, um nicht auszugleiten. Krampfhaft suchten ihre Hände Halt am Gestein und wären schon bald blutig und zerschunden gewesen, hätte Sarah nicht ihre ledernen Reithandschuhe getragen. Hin und wieder, wenn der Anstieg besonders steil wurde, bewegte sie sich auf allen vieren fort. Bis sie schließlich eine Felswand erreichte, die steil vor ihr aufragte und den Mond verfinsterte.
Keuchend und nach Atem ringend, gönnte sich Sarah eine kurze Pause. Erneut ließ sie sich auf einem Felsen nieder und nahm einen Schluck Wasser. Sie genoss das lauwarme Nass und verspürte den jähen Drang, auch noch den Rest hinunterzustürzen. Aber obwohl ihre Kehle wie ausgedörrt war und ihr Rachen brannte, beherrschte sie sich. Dieses Wasser war vorerst alles, was sie vor dem sicheren Tod bewahrte – auch wenn es viel zu wenig war.
Erneut überkam Sarah das eigenartige Gefühl, beobachtet zu werden, und plötzlich hörte sie ein verdächtiges Geräusch: loses Gestein, das sich löste. Steine klickerten irgendwo den Hang hinab, es folgte ein leises Rieseln. Dann kehrte wieder Stille ein.
Gespenstische Stille!
In früheren Tagen hatte Sarah die Ruhe über der Wüste als Wohltat empfunden. In der Wüste, pflegten die Beduinen zu sagen, hatte sich das Schweigen des Anbeginns der Zeit bis in die Gegenwart erhalten. Nirgendwo sonst, so hieß es, war man
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