Der Schatten von Thot
dem Göttlichen so nah. Früher hatte Sarah ebenso empfunden. In dieser Nacht jedoch lastete die Stille schwer und drückend auf ihr, und sie spürte ihre Einsamkeit.
Was hätte sie jetzt um menschliche Gesellschaft gegeben! Selbst Milton Fox oder Stuart Hayden wären ihr willkommene Gäste gewesen – aber keinen von beiden würde sie jemals Wiedersehen. Sie waren tot, dahingerafft vom Zorn der Wüste, der über sie hereingebrochen war. Vielleicht, dachte Sarah betrübt, lastete tatsächlich ein Fluch auf Thots Geheimnis, der sie nun ereilt hatte…
Erschöpft und kraftlos, wie sie war, zwang sie sich dazu, wieder aufzustehen und die Felswand zu erklimmen, deren Höhe an die fünfzehn Fuß betragen mochte. Darüber schien es ein Plateau zu geben, wo Sarah sich erneut am Stand der Sterne orientieren wollte.
Die schmalen Spalten und Risse im Fels als Griffe und Tritte nutzend, zog sich Sarah am roten Fels empor, der noch immer von der Hitze des Tages warm war. Sarah, die seit Stunden nichts gegessen und kaum etwas getrunken hatte, spürte ihre Kräfte schwinden, aber sie gab nicht auf. Mit eisernem Willen arbeitete sie sich Stück für Stück nach oben. Einmal rutschte sie ab und musste rasch nachgreifen, um nicht abzustürzen; dann ging es wieder weiter, Stück für Stück. Endlich erreichte sie die Abbruchkante – nur um festzustellen, dass sie nicht allein war auf dem Plateau.
Eine Wüstenagame kauerte genau dort, wo Sarah über die Kante spähte. Einen Augenblick lang blickten die Echse und Sarah einander in die Augen – dann ging alles blitzschnell.
Noch ehe das knapp einen Fuß lange Reptil die Flucht ergreifen konnte, schnellte Sarahs Rechte empor und packte es. Die Echse verfiel in heiseres Zischen, ihr schuppiger Körper wand und wehrte sich, aber Sarah ließ nicht los.
Das Tier mit einer Hand umklammernd, zog sie sich mit der anderen nach oben und wälzte sich schwerfällig und mit letzter Kraft über die Kante. Dann griff sie kurzerhand nach dem Messer an ihrem Gürtel, und noch ehe sie dazu kam, Ekel oder Skrupel zu empfinden, trennte sie dem Tier auch schon den Kopf vom Rumpf und trank das Blut, das aus dem Stumpf des Halses troff. Anschließend legte sie den Torso vor sich auf einen flachen Stein, schlitzte ihn bäuchlings auf und aß das rohe Fleisch. Es war lauwarm und besaß einen widerwärtigen Geschmack, aber Sarah wusste, dass sie nicht wählerisch sein durfte. Eine Agame war ein Festmahl, das sie sich nicht entgehen lassen durfte, vor allem, wenn es sich ihr so bereitwillig anbot. Das Tier bedeutete einen weiteren Tag Überleben. Mindestens…
Erst nachdem sie ihr ungewöhnliches Nachtmahl beendet hatte, erhob sich Sarah und hatte Augen für ihre Umgebung. Ihre Bluse und ihr Kopftuch waren blutbesudelt, ebenso wie Mund und Kinn. Hätte sie sich in diesem Zustand auf den Straßen Londons gezeigt, wäre sie vermutlich verhaftet und nach Bedlam gebracht worden – ein Gedanke, der ein dünnes Lächeln auf ihre Züge brachte.
Von dem schmalen Plateau aus, das sich in östlicher Richtung erstreckte und von einzelnen Felsnadeln gekrönt wurde, bot sich ein weiter Ausblick auf das Umland, das der Mondschein in kaltes Licht tauchte. Wie ein Meer, dessen Wellen durch unerklärlichen Zauber erstarrt waren, breitete sich die Wüste vor ihr aus. Weit und breit erblickte Sarah keine Spur von Zivilisation. Kein Lager, keine Behausung, kein Rauch und kein Feuer. Nur der blaue Sand und die funkelnde Unendlichkeit der Sterne, die sich darüber erstreckte.
Vom Anblick überwältigt, sank Sarah nieder, und für einen kurzen Moment hatte sie das Gefühl, eins zu werden mit der Wüste. Sie begriff sich als Teil der Schöpfung, und es erschien ihr unerheblich, ob sie lebte oder starb. Für die Schöpfung war es ohne Belang, so wie es für die Wüste bedeutungslos war, ob man ihr ein Sandkorn entnahm oder eines hinzufügte.
Aber schon im nächsten Moment brach sich Sarahs eiserner Überlebenswille wieder Bahn. Wenn es ihr bestimmt war, hier zu sterben, so mochte es geschehen – aber nicht, ehe sie nicht alles versucht hatte, um am Leben zu bleiben und das Geheimnis zu ergründen, dessentwegen sie hierher gekommen war. Es gab Menschen, denen sie es schuldig war, weiterzugehen und alles daran zu setzen, ihr Ziel zu erreichen.
Am allermeisten jedoch – und das wurde Sarah im Angesicht der Wüste deutlich, während das Licht der Sterne ihre kleine, verlorene Existenz beleuchtete – schuldete sie es sich
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