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Der Schatten von Thot

Der Schatten von Thot

Titel: Der Schatten von Thot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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nun doch, es anzutreiben. Ein Brausen erhob sich, das wie das Fauchen eines Untiers klang, und als Sarah diesmal über die Schulter blickte, sah sie die Walze durch die Senke rollen. Sand, der eben noch in flachen Wellen gelegen hatte, schoss plötzlich senkrecht empor, davongerissen von der Urwucht des Sturmes. Die Wand war jetzt so hoch, dass sie die Sonne mit gelben Schleiern verfinsterte, und Sarah merkte bereits, wie der herannahende Wind an ihr zerrte.
    »Schneller, verdammt noch mal! Schneller…!«
    In diesem Moment erreichte die Walze die Stelle, wo Hayden und die anderen sich mitsamt ihren Kamelen eingegraben hatten. Ein Vorhang aus Sand und Staub fiel über sie, und Sarah schickte ein Stoßgebet zum Himmel – für ihre Gefährten und auch für sich selbst.
    Die Entfernung zur Ruine mochte noch an die achtzig Yards betragen – möglicherweise zu viel.
    Mit grässlichem Fauchen rollte der Sturm heran. Verzweifelt suchte Sarah ihm zu entkommen: eine winzig kleine Gestalt im Vergleich zu dem tosenden Inferno, das ihr auf den Fersen war. Der erste Vorbote der Sturmfront erreichte Sarah, und trotz der Brille konnte sie schlagartig kaum noch etwas sehen.
    Ein Windstoß erfasste sie und wollte sie aus dem Sattel heben. Tausende Sandkörner prasselten wie Nadelstiche in ihr Gesicht. Mit Mühe konnte sie eine Ruine ausmachen, die vor ihr aus dem tödlichen Schleier wuchs und einst ein Wachturm gewesen sein mochte. Die Krone war längst verfallen, die Mauer teilweise eingestürzt, aber es war die einzige Zuflucht, die Sarah noch erreichen konnte.
    Noch dreißig Yards.
    Der Sturm nahm an Intensität zu. Von einem Augenblick zum anderen wurde es völlig dunkel, und alles, was Sarah noch wahrnahm, war das Brausen des Windes in ihren Ohren und der nadelnde Sand in ihrem Gesicht. Ein lauter, verzweifelter Schrei entrang sich ihrer Kehle. Es war, als versuchte sie, ihre Stimme gegen die Allgewalt der Natur zu erheben.
    Zwanzig Yards.
    Ein Pfeifen, schriller und durchdringender als alles, was Sarah je gehört hatte, lag ihr in den Ohren. Sie schluckte Sand und musste husten, hatte Mühe, sich noch im Sattel zu halten. Aber mit eisernem Willen trieb sie das Kamel weiter auf den rettenden Turm zu.
    Zehn Yards…
    Die Umrisse der Ruinen wirkten in der künstlichen Nacht wie ein rettender Hafen. Abrupt brachte Sarah das Kamel zum Stehen, das prompt unter ihr zusammenbrach. Sarah stürzte aus dem Sattel und landete im weichen Sand. Sofort raffte sie sich wieder auf die Beine, wollte nach dem Zügel des Kamels greifen, um es mit in den Schutz der Ruine zu zerren, aber ihre Hand griff ins Leere.
    Das Kamel war verschwunden.
    Sarah blieb keine Zeit, darüber nachzusinnen, ob das Tier die Flucht ergriffen hatte oder von einer Sturmböe erfasst und fortgerissen worden war. Sie wandte sich um und legte die letzten Schritte zur Ruine zurück, stemmte sich mit dem ganzen Gewicht ihres Körpers gegen die Wucht des Sturmes. Erschöpft und am ganzen Leib zitternd, fiel sie durch den schmalen Eingang – just in dem Moment, als die vernichtende Walze den Fuß der Berge erreichte.
    Das Pfeifen schwoll zu einem unerträglichen Tosen an. Auf allen vieren kroch Sarah in den hintersten Winkel der kreisrunden Ruine, die noch über ein brüchiges Dach verfügte. Dort blieb sie eng an die Wand gekauert sitzen und schlug das Tuch vor ihr Gesicht. Sie hörte das scheußliche Gebrüll des Sturmes, spürte, wie er an der Ruine zerrte, deren verwitterte Quader unter der rohen Gewalt erbebten, und hoffte nur, dass das uralte Gemäuer standhalten würde. Am ganzen Leib zitternd, konnte Sarah Kincaid nichts anders tun, als zum Herrn zu beten und zu warten.
    Entweder auf ihr eigenes Ende.
    Oder auf das des tosenden Infernos…

 
    2
     
     
     
    E XPEDITIONSBERICHT
    5. J ANUAR N ACHTRAG
     
    Irgendwann war der Sturm zu Ende.
    Wie lange er gewütet und ich in der Dunkelheit der Höhle gesessen hatte, mit angezogenen Beinen und zitternd vor Angst, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich nur, dass die Dunkelheit sich irgendwann lichtete und ein einzelner Sonnenstrahl in die Ruine fiel.
    Ich erhob mich und schüttelte den Sand ab, der sich an meiner Kleidung und in meinem Haar festgesetzt hatte. Ich blickte hinaus ins Freie – und hatte das Gefühl, an einen anderen, weit entfernten Ort versetzt worden zu sein.
    Die Landschaft war eine andere als vor dem Sturm. Die Dünen hatten sich verändert; einige von ihnen hatten sich zu steilen Sandgebirgen

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