Der Schatten von Thot
gewesen! Nun hatte Anubis, der Herrscher der Unterwelt, ihr sein Antlitz gezeigt.
Sarah wusste, dass dies das Ende war.
Noch einen Schritt tat sie – und noch einen, bei dem sie bereits das Gleichgewicht verlor. Dann brach sie zusammen.
Bäuchlings fiel sie zu Boden. Den Mund vor Erschöpfung und Durst weit aufgerissen, biss sie in den Sand, würgte und hustete. In einem letzten, verzweifelten Aufbäumen von Kraft versuchte sie, sich wieder zu erheben, aber es gelang ihr nicht mehr. Die Wüste hatte den Kampf gewonnen, und durch flimmernde Schleier beobachtete Sarah, wie der Schakal sich ihr langsam näherte.
»D-das Ende…«
Mit zitternden Händen tastete sie an sich herab, griff nach dem Revolver und zog ihn aus dem Holster. Als sie jedoch auf das Tier anlegen wollte, war es verschwunden.
Statt seiner stand dort ein Mensch in der flimmernden Luft, und Sarahs Erleichterung war grenzenlos, als sie die vertrauten, milden Züge von Gardiner Kincaid erblickte.
Ihr Vater stand dort, wie sie ihn in Erinnerung hatte, in seinem alten Rock, den er auf so vielen Reisen getragen hatte, den Tropenhelm auf dem Kopf. Und der Blick, mit dem er sie bedachte, verriet unendliches Bedauern.
»Vater… du lebst?«
»Nein«, sagte Gardiner Kincaid mit leiser Stimme, die direkt in Sarahs Kopf zu klingen schien. »Ich bin den Weg gegangen, den auch du nun gehen wirst, Sarah. Hab keine Angst…«
»Bin froh, dich zu sehen…«
»Ich ebenso, meine Tochter. Aber ehe du die Grenze zur Unendlichkeit überschreitest, möchte ich, dass du mir verzeihst.«
»I-ich soll dir verzeihen? Was, Vater…?«
»Was ich dir angetan habe. Was ich dir verschwiegen habe.«
»Du hast mir… etwas verschwiegen? Was…?«
»Du weißt es bereits«, erwiderte der alte Gardiner. »Tief in deinem Inneren kennst du die Antwort, Sarah, und ich bitte dich, mir zu vergeben, dass ich sie dir vorenthalten habe.«
»Was auch immer«, flüsterte Sarah mit kaum noch vernehmbarer Stimme, »ich verzeihe dir, Vater…«
»So will auch ich dir verzeihen«, sagte eine andere Stimme. Die Gestalt Gardiner Kincaids war verblasst. Statt seiner stand der arme Kesh vor Sarah, die Züge kalkig weiß und die Kleider blutbesudelt, so, wie sie ihn in Kairo am Fuß der Treppe zur alten Sternwarte aufgefunden hatte.
»Kesh…«
»Ich bin froh, dass du mich erkennst«, sagte der Diener des Weisen zu Sarahs Verblüffung.
»Du… du kannst sprechen…?«
»Frei bin ich von irdischen Banden – dank deiner Hilfe«, spottete Kesh, und seine großen Augen rollten feindselig in ihren Höhlen. »Nachdem du all die Jahre verschwunden warst, kehrst du ungefragt zurück und erteilst mir einen Auftrag, der mich das Leben kostet.«
»D-das wollte ich nicht, Kesh«, erwiderte Sarah flüsternd. »Du musst mir glauben… dass ich… nicht wollte… verzeih mir… bitte dich… verzeih mir…«
Kesh erwiderte nichts darauf. Die Gestalt des unheimlichen Besuchers veränderte sich abermals – um die nicht weniger vertrauten Züge von Maurice du Gard anzunehmen.
»Chérie«, sagte er nur, und es klang bedauernd und vorwurfsvoll zugleich. »Was tust du da?«
»Was ich… hier tue?« Sarah kicherte irrsinnig, würgte am Sand, den sie geschluckt hatte. »Ich sterbe, du französischer Kretin…«
»Non«, widersprach du Gard entschieden, »das wirst du nicht. Du wirst leben, Sarah Kincaid, hörst du?«
»Nein, Maurice… ist vorbei…«
»Erinnerst du dich an meine Worte?«, fragte du Gard. »Weißt du noch, was ich dir an jenem Abend auf dem Schiff über das Licht sagte?«
»Ja«, hauchte Sarah tonlos, während ihre Hand sich in den heißen Sand krallte. »Du sagtest… solle dem Licht vertrauen… würde mich ans Ziel führen…«
»C’est ca«, erwiderte der Franzose, während seine schlanke Gestalt sich in der flirrenden Hitze aufzulösen begann.
»Maurice«, rief Sarah verzweifelt, »lass mich nicht allein…«
Aber du Gard verschwand – und an der Stelle, wo er eben noch gewesen war, flammte ein greller Lichtschein auf, gegen den selbst das gleißende Licht der Sonne zu verblassen schien.
Es war, als würde sich eine Pforte öffnen, die in ferne Unendlichkeit führte, und mit einem Mal wurde Sarah innerlich ruhig und gelassen. Dem Licht vertrauen, hatte du Gard gesagt. Sich von ihm ans Ziel führen lassen…
Auf allen vieren durch den Sand kriechend, schleppte sich Sarah der leuchtenden Pforte entgegen, jedoch ohne sie zu erreichen. Je näher sie zu kommen glaubte, desto
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