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Der Schatten von Thot

Der Schatten von Thot

Titel: Der Schatten von Thot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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wenn die hoch stehende Sonne die Lehmmauern erhitzte, mochte es hier vor Hitze kaum auszuhalten sein; jetzt, am frühen Morgen, war der Marsch durch die engen Gassen noch vergleichsweise unbeschwerlich. Das Ziel war der flache Grat des Berges, wo sich der höchste Punkt der Stadt befand und der geheimnisvolle Turm erhob, der schon aus weiter Ferne zu sehen gewesen war. Sarah war sicher, dass sich dort das Zentrum der Geisterstadt befand.
    Vorbei an eingebrochenen Mauern und vom Wind glatt geschmirgelten Wänden ging es immer weiter hinauf. Sarah und Kamal sprachen kaum ein Wort, während sie marschierten, bald durch schmale Gassen, dann wieder über die Trümmer eingestürzter Häuser hinweg. Dabei beschlich Sarah erneut jenes bohrende Gefühl – und diesmal leugnete sie es nicht.
    »Ich fühle etwas«, raunte sie Kamal zu, »aber ich weiß nicht, was es ist.«
    »Wir werden beobachtet«, erwiderte der Tuareg düster. »In dieser Stadt der Toten haben selbst die Wände Augen…«
    Beklommen blickte Sarah sich um. Dabei hatte sie das Gefühl, dass aus den runden Fensteröffnungen tatsächlich unsichtbare Augen starrten, Augen, die jeden ihrer Schritte beobachteten. Sarah schauderte, und es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, dass diese Gassen einst mit Leben gefüllt gewesen waren. Eher war man geneigt zu glauben, dass in alter Zeit ein Fluch über diesen Ort verhängt worden war, der die Menschen vertrieben und Thots Schatten in eine Geisterstadt verwandelt hatte. Sarah schüttelte den Gedanken ab und ermahnte sich dazu, ihren Verstand zu gebrauchen. Sie war Wissenschaftlerin und der Rationalität verpflichtet.
    Vor ihnen verbreiterte sich die Gasse, und die zurückspringenden Ruinen gewährten einen Blick hinauf zum Turm, der allen Sandstürmen und dem Zahn der Zeit erfolgreich getrotzt hatte. Jetzt war deutlich zu erkennen, dass der Turm einen fünfeckigen Grundriss besaß. Das Licht der aufgehenden Sonne hatte seine Krone erreicht und ließ sie wie ein Fanal in der Finsternis leuchten.
    »Dorthin müssen wir«, meinte Sarah überzeugt.
    Kamal widersprach nicht, und zwischen grauen, brüchigen Mauern hindurch suchten sie sich einen Weg hinauf zum Gipfel. Je weiter sie vordrangen, desto weniger Sand bedeckte den Boden, und man konnte die Stufen erkennen, die einst in den Fels des Bergrückens gehauen worden waren. An einer der Stufen blieb Sarah unvermittelt stehen, bückte sich und wischte mit der Handfläche den Staub beiseite. Darunter kam eine Hieroglyphe zum Vorschein, die in den Sandstein gemeißelt war.
    Das Symbol eines Ibisses.
    Das Zeichen von Thot.
    »Ich denke, wir sind auf der richtigen Spur«, stellte Sarah fest, und trotz ihrer Anspannung schwang Triumph in ihrer Stimme mit. Auch wenn sie nur gekommen waren, um das Geheimnis, das diesen Ort umgab, zu vernichten, wurde Sarah nichtsdestotrotz von Neugier getrieben. Denn bevor sie das Buch von Thot vernichtete, würde sie wissenschaftliche Erkenntnis erlangen…
    Die Stufen wurden steiler, und je weiter es hinaufging, desto mehr wuchs das bedrückende Gefühl, das Sarah begleitete. Erneut blickte sie sich um, konnte jedoch niemanden erkennen, und es fiel ihr auf, dass es völlig still war. Kein Lufthauch regte sich, es gab keine Vögel, die in den Gemäuern nisteten. Nicht einmal Echsen oder Skorpione, die in der Wüste sonst überall anzutreffen waren, schienen hier zu hausen. Als würden die Tiere das drohende Verderben spüren und hätten diesen Ort deshalb über die Jahrtausende gemieden.
    Sarah und Kamal durchschritten einen alten Torbogen, der sich zwischen zwei Ruinen spannte und den eine Laune der Natur bis in die Gegenwart erhalten hatte; und nachdem sie über steile Stufen dem gleißenden Sonnenlicht entgegengestiegen waren, standen sie unvermittelt vor dem Turm.
    Der Basis des brüchigen, aber noch intakten Bauwerks waren mehrere Gebäude angegliedert, die zum Teil eingestürzt waren, obwohl sie dem Ansturm von Sand und Wind viel weniger ausgesetzt gewesen waren als der Turm selbst. Das eindrucksvolle Bauwerk, das die Geisterstadt weit überragte, war nicht wie die Häuser aus Lehmziegeln, sondern aus Stein errichtet worden, was bedeuten musste, dass ihm einst eine besondere Bedeutung zugekommen war.
    Der unheilvolle Blick Kamals bestätigte Sarah in ihrer Vermutung, und sie näherten sich dem Torhaus, durch das man ins Innere des Turmes gelangte, mit äußerster Vorsicht. Die hölzernen Torflügel existierten längst nicht mehr; der Eingang

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