Der Schatten von Thot
war halb von Sand verschüttet, dahinter lauerte undurchdringliche Dunkelheit.
»Nun?«, fragte Kamal nur.
»Worauf warten wir?«, entgegnete Sarah entschlossen, lud ihren Beutel ab und entnahm ihm zwei Fackeln, die sie mit Hilfe der Zunderbüchse entfachte. Eine davon reichte sie Kamal, die andere behielt sie selbst. Dann überschritten sie die Schwelle, über die seit langer Zeit kein Mensch mehr den Fuß gesetzt hatte, in gespannter Erwartung dessen, was sie im Inneren vorfinden mochten.
Auf den ersten Schritten durch die Finsternis, die dem Licht der Fackeln nur widerwillig zu weichen schien, hatte Sarah das Gefühl, als würde ihr die Luft zum Atmen genommen. Es war stickig innerhalb der alten Mauern, und Sarah fühlte ihr Herz bis zum Hals schlagen. Sie bemühte sich, tief und gleichmäßig zu atmen, und nach wenigen Augenblicken legte sich das bedrückende Gefühl – bis Sarah im flackernden Schein die scheußliche Kreatur gewahrte, die sich auf ihren Begleiter stürzen wollte.
»Kamal!«
Ihr heiserer Ruf ließ den Tuareg herumfahren und nach dem Messer greifen, der einzigen Waffe, die man ihnen zugestanden hatte. Aber was dort über ihm auf einem Steinsockel kauerte und aussah, als wollte es sich jeden Augenblick mit gefletschten Zähnen auf ihn stürzen, war kein Wesen aus Fleisch und Blut; es war die in Stein gehauene Figur eines Pavians, jenes anderen Tieres, mit dem die alten Ägypter den Mondgott Thot in Verbindung gebracht hatten.
Allerdings wies der Pavian nicht jenen Grad an Stilisierung auf, den Sarah von Darstellungen ägyptischer Bildhauerkunst gewohnt war. Das überlebensgroße Standbild des Affen war verblüffend realistisch gehalten, mit weit aufgerissenem Maul und ausgestreckten Klauen, als wollte er jeden Eindringling zerfetzen. Zorn und maßloser Hass schienen aus den in Stein gemeißelten Zügen zu sprechen.
»Ein ewiger Wächter«, stellte Kamal fest. »Seit Jahrtausenden steht er hier auf seinem Posten und hat wohl schon manchen Ahnungslosen in die Flucht geschlagen.«
»Schmierentheater«, kommentierte Sarah abfällig, verärgert darüber, dass eine Statue ihr solch einen Schrecken eingejagt hatte. »Wer mich aufhalten will, sollte sich etwas Besseres einfallen lassen.«
»Sei vorsichtig, was du sagst, Sarah. Du solltest den Mondgott nicht herausfordern. Außerhalb dieser Mauern mag eine neue Zeit angebrochen sein, aber dies hier ist seine Welt und seine Zeit, und wir sind die Fremden, die in sein Reich eindringen, das solltest du nicht vergessen.«
Sarah wollte mit bitterem Spott antworten, aber als sie Kamals ernste Züge sah, ließ sie es bleiben; nicht zuletzt, weil der Tuareg nicht ganz Unrecht hatte. Andernorts mochte man das Jahr 1884 schreiben und die Pforte zu einem neuen, von Maschinenkraft und Technik beherrschten Zeitalter aufgestoßen haben – an diesem dunklen Ort jedoch war all dies nicht von Bedeutung, waren sie den Launen des Mondgottes ebenso ausgeliefert wie jeder andere, der in den letzten dreitausend Jahren versucht hatte, dessen Geheimnis zu erforschen.
Das Standbild des Pavians wies darauf hin, dass sie sich noch immer auf dem richtigen Weg befanden, und so fassten Sarah und Kamal sich ein Herz und drangen weiter in das flackernde Halbdunkel vor. Nach einer Weile stießen sie auf eine kreisförmige Öffnung im Boden, von der aus sich Stufen in die Tiefe wanden, geradewegs ins Innere des Berges. Die Schwärze, die dort unten herrschte, schien noch vollkommener zu sein.
»Wir können von Glück sagen, dass die Treppe noch erhalten ist«, stellte Sarah fest.
»Glück«, echote Kamal nickend. »Oder Schicksal.«
Im Licht der Fackeln, das unstete Schatten auf ihre Gesichter warf, sandte Sarah ihrem Begleiter einen Blick zu. »Du glaubst nicht, dass wir aus Zufall hier sind, oder?«
»Nichts geschieht aus Zufall, Sarah, das sagte ich dir bereits«, erwiderte Kamal flüsternd. »Alles ist vorherbestimmt. Unser Zusammentreffen in Kairo, die Vorfälle in Unu, der Überfall auf das Schiff – selbst der Tod deines Freundes du Gard. Wie sonst hätte er ihn selbst voraussehen können?«
Darauf wusste Sarah nichts zu erwidern, und im Angesicht der Vergangenheit, die ihr aus dem dunklen Schlund entgegenzustarren schien, gestand sie sich ein, dass Kamal vielleicht Recht hatte.
Möglicherweise war es tatsächlich nicht ihr eigener Wille gewesen, der sie hierher geführt hatte; vielleicht war sie, ohne es zu ahnen, zum Werkzeug einer höheren Macht geworden, in
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