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Der Schatten von Thot

Der Schatten von Thot

Titel: Der Schatten von Thot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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zu finden und ihm sein Geheimnis zu entreißen – und Sarah hatte kein gutes Gefühl dabei, sich in ihre Tradition einzureihen…
    »Spürst du es ebenfalls?«, fragte Kamal ehrfurchtsvoll.
    »Was meinst du?«
    »Das Böse«, erwiderte der Tuareg düster. »Selbst nach all der Zeit, die vergangen ist, ist es immer noch wirksam.«
    »Nein«, entgegnete Sarah schnell. »Ich fühle nichts dergleichen. Du musst dich irren, Kamal.«
    »Wenn du meinst…«
    Er ließ das Reittier weitertraben. Je näher sie den Ruinen kamen, desto deutlicher hatte Sarah das Gefühl, dass tatsächlich etwas in der morgendlichen Wüstenluft lag; etwas, das sich weder mit Worten benennen noch beschreiben ließ, aber das zur Vorsicht mahnte. Warum sie es Kamal gegenüber geleugnet hatte, wusste sie selbst nicht zu sagen. Vielleicht, weil sie fürchtete, dass der Tuareg sie zur Umkehr bewegen könnte, und ein Teil von ihr aber unbedingt wissen wollte, was sich hinter jenen Mauern verbarg…
    Inzwischen hatten sie die Geisterstadt fast erreicht, deren Überreste sich trotz fortgeschrittenen Verfalls noch immer eindrucksvoll vor ihnen erhoben. Für eine antike Siedlung war Thots Schatten von bedeutender Größe, was darauf schließen ließ, dass Tezuds Gefolge bei der Flucht mehrere Tausend Mann umfasst haben musste, darunter nicht nur Priester, sondern auch Soldaten, Handwerker und Sklaven. Es war schwer vorstellbar, dass während der vergangenen drei Jahrtausende niemand diesen Ort entdeckt oder betreten haben sollte.
    Wahrscheinlicher war, dass niemand je zurückgekehrt war, um von dort zu berichten – und das bedeutete, dass Sarah und Kamal sehr vorsichtig sein mussten…
    »Ist dir aufgefallen, dass es keine Mauer gibt?«, erkundigte sich Kamal. Tatsächlich gab es weder eine Umgrenzung noch sonst eine Verteidigungsanlage, die die Stadt umlief; nicht einmal Überreste davon waren zu erkennen.
    »Das ist nicht weiter ungewöhnlich«, entgegnete Sarah. »Im Lauf der Menschheitsgeschichte hat es immer wieder Kulturen und Stämme gegeben, die auf den Bau von Verteidigungsanlagen bewusst verzichtet haben. Das bekannteste Beispiel ist das griechische Sparta, wo man der Ansicht war, dass die spartanischen Krieger selbst die Mauer bilden sollten, an der ein feindlicher Angriff scheiterte. Womöglich haben die Priester des Thot eine ähnliche Auffassung vertreten.«
    »Womöglich«, stimmte Kamal zu. »Oder sie haben darauf vertraut, dass der Mondgott über sie wachen würde – mit dem Feuer, das er von Re gestohlen hatte.«
    Sarahs Nackenhaare sträubten sich, als ihr klar wurde, dass Kamal nur allzu Recht hatte. Dass die Stadt keine Mauern besaß, obwohl die Zeiten damals unsicher und kriegerisch gewesen waren, war ein erstes objektives Indiz dafür, dass es die Wunderwaffe tatsächlich gab: Im Vertrauen auf das Feuer des Re hatten die Erbauer von Thots Schatten auf die Errichtung einer Mauer verzichtet, und im Kampf gegen die Krieger Meherets hatte sich diese Strategie offenbar bewährt.
    Am liebsten wäre Sarah aus dem Sattel gesprungen und hätte augenblicklich mit Ausgrabungen begonnen, sie wollte überprüfen, ob sich im Sand tatsächlich Spuren einer Schlacht erhalten hatten. Ob es nun Knochenfunde waren, Pfeilspitzen oder die Überreste von Helmen und anderen Rüstungsteilen: Kampfhandlungen gehörten üblicherweise zu jenen geschichtlichen Ereignissen, die sich mittels archäologischer Methoden am besten rekonstruieren ließen. Aber es blieb keine Zeit für wissenschaftliche Untersuchungen. Sarah und Kamal waren gekommen, um dem großen Geheimnis selbst auf den Grund zu gehen…
    Endlich langten sie bei den äußersten Gebäuden an: Häusern aus grauem Lehm, deren palmgedeckte Dächer längst verschwunden waren, mit kreisrunden Öffnungen als Fenster. Die unterste Etage war von Sand verschüttet, zwischen den Ruinen wand sich eine schmale Gasse den flach ansteigenden Berg hinauf.
    Da es mit dem Kamel kein Weiterkommen gab, stiegen Kamal und Sarah ab und ließen das Tier zurück. Der Tuareg gab ihm von seinem eigenen Wasser zu saufen, und sie luden das wenige Gepäck ab, das sie dabeihatten. Kamal schlang sich das Seil quer über die Brust und nahm außerdem Schaufel und Spitzhacke mit, während Sarah den ledernen Beutel mit den Fackeln trug; dazu kam für jeden ein nur noch halb gefüllter Wasserschlauch. Dergestalt ausgerüstet, begannen die beiden ihren Marsch durch die schmalen, von grauen Wänden gesäumten Gassen. Zur Mittagszeit,

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