Der Schatten von Thot
die von pergamentartiger Haut überzogen waren. Von den knochigen Schädeln hing ausgebleichtes Haar, die Münder waren zu lautlosen Schreien geöffnet. Sarah hatte derart zugerichtete Leichen schon früher gesehen – mumifizierte Körper, denen jede Flüssigkeit entzogen worden war und die so die Jahrtausende überdauert hatten. Aber noch nie zuvor hatte sie solches Entsetzen in den knochigen Mienen gesehen. Etwas Schreckliches musste ihnen widerfahren sein…
»Die Meharai«, flüsterte Kamal voll Ehrfurcht und Abscheu zugleich.
»Wer?« Sarah runzelte die Stirn.
»Meherets Leibwächter. Der Überlieferung nach haben sie Tezud und seinen Anhängern bis zuletzt Widerstand geleistet, bis das Feuer des Re sie erfasste und bei lebendigem Leibe in das verwandelte, was du hier vor dir siehst. Die Priester des Thot haben sie hier ausgestellt, als Abschreckung und zur Warnung zugleich.«
»Ich verstehe«, erwiderte Sarah tonlos. Der Gedanke, dass die geschrumpften Augäpfel in den Schädelhöhlen der Mumien die antike Wunderwaffe gesehen hatten, ließ sie schaudern. Mehr noch ängstigte sie allerdings der Gedanke, dass das Feuer des Re zugleich auch das Letzte gewesen war, das diese Augen erblickt hatten!
An den Mumien vorbei, deren vorwurfsvolle Blicke ihnen zu folgen schienen, drangen Sarah und Kamal zum anderen Ende der Kammer vor, wo es einen Durchgang gab. Es war eine schmale steinerne Pforte, zu deren beiden Seiten mit Hieroglyphen versehene Kartuschen angebracht waren. Da die Inschriften erneut in den Geheimzeichen der Priesterschaft gehalten waren, lag es wiederum an Kamal, sie zu entziffern.
»Es ist eine Art Gebrauchsanweisung«, stellte der Tuareg fest. »Eine Erklärung, wie man an Thots Geheimnis kommt.«
»Ach ja? Und was genau steht dort?«
»Auf dieser Seite der Pforte heißt es: ›Den Pfad der Nacht beschreite, wer des Mondes Geheimnis sucht.‹ Und auf der anderen Seite steht: ›Doch hüte sich, der nach Wissen trachtet…‹«
»›…vor dem, was in Dunkelheit lauert‹«, ergänzte Sarah tonlos.
»Du kennst den Wortlaut?« Kamal war verblüfft.
Sarah nickte. »El-Hakim nannte mir die Worte, als ich ihn in Kairo besuchte, aber er wusste damit nichts anzufangen. Er sagte mir, wenn es soweit wäre, würde ich ihre Bedeutung erkennen.«
»Nun«, meinte Kamal, »offenbar ist es nun soweit.«
»Das sehe ich auch so.«
Sarah fasste ihre Fackel fester und wollte kurz entschlossen durch die schmale Pforte treten. Kamal jedoch hielt sie zurück und bedachte sie mit einem warnenden Blick.
»Ich weiß«, versicherte Sarah leise. Dann streifte sie seine Hand sanft, aber energisch ab, und gemeinsam drangen sie in das ungewisse Dunkel, das das Licht der Fackeln zu schlucken schien.
Nur wenige Yards weit reichte der flackernde Schein; zu wenig, als dass Sarah und Kamal ihre Umgebung hätten erkennen können, aber genug, um den Pfad vor ihren Füßen zu sehen. Aus dem kühlen Luftzug, der ihnen entgegendrang, folgerten sie, dass das Gewölbe größer sein musste als alle, die sie zuvor passiert hatten; der Klang ihrer Schritte verursachte ein unheimliches, hallendes Geräusch.
Es war gut, dass Sarah und Kamal ihre Blicke auf den vor ihnen liegenden Pfad geheftet hatten. Denn schon nach wenigen Yards endete der Weg an einer Abbruchkante, die in finstere, ungeahnte Tiefen führte. Aus dieser Tiefe erhoben sich steinerne Säulen, die kein Gewölbe trugen, sondern oben abgeflacht waren und in Höhe des Weges endeten: Sie besaßen nur rund eineinhalb Fuß Durchmesser und waren so angeordnet, dass man mit etwas Geschick von einer Säule zur nächsten springen konnte. Auf diese Weise führte der Weg weiter in das ungewisse Dunkel, und es war weder zu erahnen noch festzustellen, wie tief der Abgrund war, aus dem sich die Pfeiler erhoben.
Sarah und Kamal tauschten einen Blick. »Wenn ich die Worte am Eingang richtig deute«, sagte sie, »dann ist dies der ›Pfad der Nacht‹.«
»Gut möglich.« Kamal nickte. »Aber weißt du auch noch, wovon in der zweiten Inschrift die Rede war? Von etwas, das in der Dunkelheit auf uns lauert.«
»Ich habe es nicht vergessen. Aber wir haben keine andere Wahl, oder?«
»La.« Kamal schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich nicht.«
Er wartete nicht, bis Sarah den Anfang machte, sondern tat selbst den ersten Schritt. Das Seil über der Schulter und die Fackel in der rechten Hand, machte Kamal einen Satz, der ihn von der Abbruchkante zum ersten Pfeiler trug. Sand und Staub
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