Der Schatten von Thot
ganze Nacht hindurch waren sie geritten, um nur möglichst rasch Distanz zwischen sich und die vermummten Krieger zu bringen und dafür zu sorgen, dass den Frauen und Kindern des Tuareg-Stammes keine Gefahr mehr drohte. Im Augenblick durchquerte die Karawane der Geschlagenen ein vor Urzeiten ausgetrocknetes Flussbett, das zu beiden Seiten von schroffen Felswänden gesäumt wurde.
»Wie soll ich mich wohl fühlen?«, entgegnete Hayden so wortkarg wie verdrießlich. »Wie sich ein Mann eben fühlt, der verwundet, besiegt und gedemütigt wurde.«
»Ich weiß, was Sie meinen.« Der Inspektor nickte. »Anfangs hielt ich es für eine gute Idee, das Leben von Lady Kincaid gegen das unsere einzutauschen, aber je länger ich darüber nachdenke…«
»Was denn?« Hayden sandte ihm einen fiebrigen Blick zu. »Haben Sie ein schlechtes Gewissen, Inspektor?«
»Unsinn.« In Fox’ filigranen Zügen zuckte es unruhig. »Wir hatten keine Munition mehr und waren faktisch besiegt. Wir hatten keine andere Wahl, als uns zu ergeben.«
Hayden lachte rasselnd. »Man hat immer eine andere Wahl, Inspector.«
»Ersparen Sie mir Ihre Parolen von Ehre und Anstand, Captain. Große Reden bringen uns nicht weiter – auch Sie hätten Lady Kincaids Leben nicht retten können. Was geschehen ist, ist geschehen.«
»Tatsächlich?« Haydens Blick wurde ebenso stechend wie die Sonnenstrahlen, die über die Abbruchkante fielen und die Felswand auf der einen Seite der Schlucht glutrot leuchten ließen. »Warum erzählen Sie mir das alles dann überhaupt?«
»Vielleicht deshalb, weil ich mir von Ihnen ein wenig Verständnis versprochen hatte.«
»Verständnis?« Hayden schüttelte den Kopf. »Sie wollen von mir kein Verständnis, Inspektor. Sie wollen eine Absolution, die ich Ihnen jedoch nicht erteilen kann. Was Sie getan haben, haben Sie allein zu verantworten, so wie ich verantworten muss, was ich getan habe. Meine Aufgabe war es, Lady Kincaid und die Expedition zu beschützen, und ich habe versagt. Ebenso wie Sie, Inspector…«
»Verdammt, was hätte ich tun sollen?«, brach es aus Fox hervor. »Mich opfern, wie Hull und Kamal es getan haben? Was wäre damit gewonnen gewesen? Glauben Sie mir, Hayden, wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, im Kampf gegen diese Vermummten zu bestehen, hätte ich keinen Augenblick gezögert und meinen letzten Blutstropfen gegeben, um…«
»Seien Sie vorsichtig bei dem, was Sie sich wünschen, Inspector«, sagte Hayden düster.
»Weshalb? Was ist los?«
Hayden antwortete nicht. Stattdessen deutete er mit dem Kinn die östliche Seite der Schlucht empor – und Fox zuckte zusammen, als er ihm mit dem Blick folgte. Denn die Abbruchkante wurde von Silhouetten gesäumt, die sich scharf und bedrohlich gegen das Licht der Morgensonne abhoben.
Es waren Reiter, die zur Unkenntlichkeit vermummt und mit Lanzen bewaffnet waren.
»Mein Gott«, flüsterte Milton Fox, als er begriff, dass die Vergangenheit sie eingeholt hatte.
6
E XPEDITIONSBERICHT
N ACHTRAG
Bei Einbruch der Dunkelheit haben Kamal und ich das Lager verlassen. Mortimer Lay don und Sir Jeffrey, der bewusstlos ist, seit mein Patenonkel die Kugel aus der Wunde entfernt hat, sind in Gefangenschaft zurückgeblieben; den geheimnisvollen weißen Anführer der Verschwörer haben wir nicht zu Gesicht bekommen, und noch immer wissen wir nicht, wer der eigentliche Drahtzieher der Verschwörung ist.
Im Augenblick bleibt uns auch keine Zeit, darüber zu rätseln. Unsere ganze Aufmerksamkeit hat jetzt der Suche nach dem Geheimnis von Thot zu gelten, das über all die Jahrtausende streng gehütet wurde und nun vor seiner Entdeckung steht. Wir müssen mit allen Kräften dafür sorgen, dass es nicht in die falschen Hände gerät. Wo genau wir danach suchen sollen, wissen wir noch nicht; aber erneut haben wir die Spur aufgenommen, die die Sterne uns weisen und die zu einem Ort führt, der in alter Zeit als »Thots Schatten«, bekannt war…
Träge setzte das Kamel einen Fuß vor den anderen. Das Tier war altersschwach und litt außerdem großen Durst; Schaum hatte sich vor seinem Maul gebildet, sein Atem ging keuchend und in Stößen.
Natürlich hatte man ihnen nicht von ungefähr ein so schwaches Tier gegeben. Auf diese Weise wollten die Erben Meherets verhindern, dass Sarah und Kamal die Flucht ergriffen, gerade so, als ob die Tatsache, dass ihre Gefährten noch in Gefangenschaft weilten, sie nicht in ausreichendem Maße daran hindern
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