Der Schatten von Thot
Vater große Stücke auf du Gard gehalten, und sie war selbst dabei gewesen, als er…
Sarah unterbrach den Fluss ihrer Erinnerungen. An der Vergangenheit zu rühren, würde nur Schmerz zutage fördern – Schmerz, den sie hinter sich lassen wollte. Sie beschränkte sich also darauf, du Gard beim Essen zuzusehen (was kein sehr erbaulicher Anblick war) und ihm von dem Fall zu berichten, zu dem sie hinzugezogen worden war. Dass sich das Spektrum der Verdächtigen dabei bis in höchste Kreise erstreckte, ließ sie geflissentlich aus. Stattdessen berichtete sie von den ägyptischen Schriftzeichen, die man am Tatort gefunden hatte, von der Egyptian League und von den Misserfolgen, die Scotland Yard bislang zu verzeichnen hatte.
»Ist das alles?«, fragte du Gard kauend, während er mit dem letzten Stück Brot das Fett vom Teller tunkte. »Oder hast du dabei noch etwas vergessen?«
»Nicht, dass ich wüsste«, antwortete Sarah, worauf ihr Gegenüber nur unverschämt lachte.
»Dann, ma chère, leidest du entweder unter Gedächtnisschwund, oder du bist eine verdammte Lügnerin – und nichts von beidem möchte ich hoffen.«
»Tut mir leid«, bekräftigte Sarah noch einmal, »ich weiß wirklich nicht, wovon du sprichst.«
»Eh bien, ich meine damit, dass du mir noch nicht alles erzählt hast, Kincaid. Du hast vergessen zu erwähnen, um wen es bei dieser ganzen Sache geht – und dass die Königin ein massives Interesse daran hat, dass ihr leiblicher Enkelsohn, der Duke of Clarence, unbeschadet aus dieser Sache hervorgeht.«
»Woher weißt du das?«, fragte Sarah verblüfft und blickte sich argwöhnisch um. Du Gard hatte lauter gesprochen, als es ihr recht war, aber keiner der übrigen Gäste schien von ihnen besondere Notiz zu nehmen. »Hast du etwa die Karten befragt?«
Du Gard lachte wieder. »Um solche Dinge zu erfahren, brauche ich die Karten nicht zu befragen, Kincaid – dazu bedarf es nur eines guten Gehörs und eines wachen Verstandes. Schlechte Nachrichten pflegen sich stets wie ein Lauffeuer zu verbreiten, und in Whitechapel wird in allen Gassen gemunkelt, dass der königliche Enkel in die Mordfälle verstrickt sein soll.«
»Wer behauptet das?«
»So mancher. Das East End ist voller selbsternannter Revolutionäre, die die Ängste der Leute schüren – und der Mörder, wer immer er sein mag, macht es ihnen leicht. Du musst zugeben, Kincaid, dass herausgeschnittene Innereien in der Tat sehr eigenwillige Souvenirs sind, von mit Blut geschriebenen Hieroglyphen ganz zu schweigen. Und diese Hieroglyphen deuten auf einen Täter hin, der aus gehobenen Kreisen stammt. Das macht die Leute wütend.«
»Ich weiß«, pflichtete Sarah ihm bei. »Auch ich gehe davon aus, dass wir es mit einem äußerst gebildeten und obendrein sehr gerissenen Täter zu tun haben, aber beim Scotland Yard will man nichts davon wissen. Dort folgt man lieber der Theorie, dass es sich bei den Morden um die Tat eines tumben Schlächters handelt.«
»Und das wundert dich?« Du Gard lächelte matt. »Ma chère, allmählich solltest du begriffen haben, dass in dieser Welt nichts so ist, wie es auf den ersten Blick erscheint. Oder glaubst du, es war Zufall, dass wir einander erneut begegnet sind? Dass ich just zu diesem Zeitpunkt ausgerechnet in jenem Stadtteil lebe, in dem sich eine geheimnisvolle Mordserie ereignet?«
»Du hattest schon immer ein eigenartiges Talent dafür, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein.«
»Bien, genau wie du, Kincaid. Das Abenteuer liegt dir im Blut, nicht wahr? Es ist deine Bestimmung, der Vergangenheit ihre Geheimnisse zu entreißen, und nur, weil du dich dieser Bestimmung nicht erwehren kannst, sitzen wir hier. Habe ich Recht?«
»Möglicherweise«, gestand Sarah ein, »aber hier geht es nicht um ein Geheimnis der Vergangenheit. Der Whitechapel-Mörder treibt hier und jetzt sein Unwesen, und bei der Suche nach ihm hatte ich auf deine Hilfe gehofft.«
»Das ehrt mich«, erwiderte du Gard, »aber leider kann ich dir nicht helfen.«
»Weshalb nicht?«
»Weil jemand, der die Wahrheit nicht wirklich sucht, sie auch niemals finden wird.«
»Was willst du damit sagen?«
»Ich will damit sagen, dass du dich dem Offensichtlichen verschließt, Kincaid – und offensichtlich ist, dass man dich an der Nase herumführt. Was du mir erzählt hast, klingt einfach haarsträubend. Warum sollte der Mörder am Tatort ägyptische Hieroglyphen hinterlassen?«
»Nun – um den Verdacht auf das Königshaus zu lenken. Es
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