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Der Schatten von Thot

Der Schatten von Thot

Titel: Der Schatten von Thot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Anderswelt wieder, die von Rauchschwaden durchzogen war, Rauch, der sich süß und schwer auf die Lungen legte und die Sinne betäubte. Im schwachen Kerzenschein waren hier und dort schemenhafte Gestalten zu erkennen, die lethargisch am Boden kauerten und aus langen Pfeifen rauchten. Die Augen der Männer waren glasig und blicklos – und inmitten dieser entrückten Geister, die den chinesischen Drachen jagten, fand Sarah Kincaid ein bekanntes Gesicht.
    »Du Gard?«
    Der Angesprochene kauerte auf dem Boden, eine schlanke, mit kunstvollen Schnitzereien verzierte Pfeife in der Hand. Sein Gesicht war blass und ausgezehrt, sein schulterlanges, angegrautes Haar im Scheitel bereits gelichtet. Der lilafarbene Rock mit dem altmodischen, rüschenbesetzten Hemd darunter verlieh seiner Erscheinung etwas Geckenhaftes. Sein Alter zu schätzen, war unmöglich – hätte Sarah nicht gewusst, dass Maurice du Gard nur wenig älter war als sie, hätte sie ihn für einen Greis gehalten. Das Leben, das er führte, hatte Spuren hinterlassen…
    »Du Gard, ich bin es. Sarah Kincaid.«
    Noch immer erfolgte keine Reaktion. Sie ließ sich zu ihm nieder und blickte in seine Augen, die geradewegs durch sie hindurch zu starren schienen. Daraufhin berührte sie ihn an der Schulter und rüttelte ihn leicht, aber du Gard zeigte auch weiterhin keine Regung. Sarah räusperte sich peinlich berührt und blickte sich um, aber keine der lethargischen Gestalten in der Opiumhöhle schien von ihr Notiz zu nehmen. Daraufhin entledigte sie sich des Handschuhs, den sie an ihrer Rechten trug – und versetzte du Gard eine schallende Ohrfeige, die den Franzosen prompt zu Bewusstsein brachte. Er blinzelte, und in seine wässrig blauen Augen kam plötzlich wieder Leben. Als er Sarah erkannte, weiteten sie sich vor Erstaunen.
    »Chérie?«, fragte er mit jener samtig weichen, akzentbeladenen Stimme, deren Klang Sarah fast vergessen hatte.
    »Sarah«, verbesserte sie. »Wir hatten beschlossen, es dabei zu belassen.«
    » Oui, ich weiß.« Er nickte. » Très malade – wirklich schade. Was, in aller Welt tust du hier?«
    »Dasselbe könnte ich dich fragen, du Gard. Hattest du die Jagd nach dem Drachen nicht aufgeben wollen?«
    »Oui, cest vrai … Aber du weißt, wie das ist – der Flügelschlag des Drachen holt dich immer wieder ein.« Er lächelte entschuldigend, und Sarah gestand sich widerstrebend ein, dass sein Lächeln nichts von seinem Charme eingebüßt hatte. Leider…
    »Es war nicht einfach, dich zu finden«, stellte sie fest.
    »Kann ich mir denken.« Er lächelte wieder. »Aber du hast es dennoch geschafft, n’est pas?«
    »Ich hatte Hilfe.«
    »Von wem?«
    »Scotland Yard«, sagte sie nur, was genügte, um einen Schatten auf seine fahlen Züge zu werfen.
    »Was deine Freunde betrifft, warst du noch nie sehr wählerisch, Kincaid«, stellte du Gard missbilligend fest. »Ist es erlaubt zu fragen, weshalb du die Unterstützung dieser unerfreulichen messieurs gesucht hast?«
    »Weil ich dich unbedingt finden musste«, gestand Sarah offen.
    »Du musstest mich finden?« Er machte große Augen. »Was ist geschehen? Hat dich die Sehnsucht so weit getrieben?«
    »Wohl kaum«, widersprach sie verlegen, während sie sich eine Närrin schalt. Was hatte sie erwartet? Dass du Gard sie mit offenen Armen empfangen würde…? »Ich brauche deine Hilfe, Maurice.«
    »Ach so ist das?« Er hob die Brauen. »Nachdem du mich damals einfach hast sitzen lassen, stehst du nun plötzlich vor mir und brauchst meine Hilfe.«
    »Es tut mir leid«, erwiderte sie ohne erkennbares Bedauern. »Falls es dich tröstet – ich wäre nicht zu dir gekommen, wenn es sich nicht um einen äußersten Notfall handeln würde.«
    »Davon gehe ich aus«, konterte der Franzose selbstbewusst und raffte sich auf seine dünnen Beine. »Et non – es tröstet mich in keiner Weise. Der Abschied bei unserem letzten Treffen verlief nicht nach meinem Geschmack.«
    »Das ging mir ebenso, du Gard.«
    »Ma chère – ich bin es nicht gewesen, der sich bei Nacht und Nebel aus dem Staub gemacht hat.«
    »Ich hatte meine Gründe«, erklärte sie.
    »Natürlich.« Er nickte. »Und nun tauchst du nach all der Zeit plötzlich auf und bittest mich um Hilfe? Das ist eigenartig, Kincaid, findest du nicht?«
    »Ich weiß.«
    »Nenne mir einen guten Grund, weshalb ich dir helfen sollte. Etwa um der guten alten Zeiten willen?«
    »Nein.« Sie senkte beschämt den Blick. »Sondern um meines Vaters willen. Er hat stets

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