Der Schatten von Thot
Fall arbeiten wirst?«, erkundigte er sich.
»Ja«, erklärte Sarah nicht ohne Zögern. »Unter einer Bedingung.«
»Nämlich?«
»Ich will einen anderen Mitarbeiter. Dieser Inspector Quayle ist ein eingebildeter Holzkopf.«
»Nun, er ist sicher kein Ausbund an Eloquenz, aber ich halte ihn dennoch für einen engagierten und durchaus fähigen…«
»Er ist ein Hohlkopf«, beharrte Sarah. »Ich will jemand anderen. Jemanden, dem ich vertrauen kann.«
»Wen?«
»Maurice du Gard.«
»Du Gard? Diesen verrückten Franzosen? Ausgerechnet diesem Scharlatan willst du ein Staatsgeheimnis anvertrauen?« Laydon lachte freudlos. »Bei allem Verständnis, Sarah, ich glaube nicht, dass das Königshaus und der Yard sich darauf einlassen werden. Immerhin ist du Gard nicht einmal ein britischer Landsmann, und man wird nicht wollen, dass…«
»Er und kein anderer«, stellte Sarah klar. »Wenn ich herausfinden soll, was hinter alldem steckt, brauche ich du Gards Fähigkeiten.«
»Fähigkeiten?« Laydon schüttelte den Kopf. »Mir graut, wenn ich an diesen Bonvivant nur denke. Du Gard ist ein Lebemann und obendrein abhängig von Alkohol und Opium…«
»Ich weiß«, erwiderte Sarah, »und damit befindet er sich in bester Gesellschaft, wie wir wissen.«
Sie blickte ihren Patenonkel und Mentor so durchdringend an, dass dieser schließlich nicht anders konnte, als ihr nachzugeben. Der Doktor nickte zögernd und erklärte sich bereit, sich bei Sir Jeffrey in der Sache einzusetzen – versprechen, so fügte er ausdrücklich hinzu, könne er allerdings nichts.
Sarah war damit zufrieden. Sie war sicher, dass Hull ihrem Ersuchen nachgeben würde. Die Zeit arbeitete für sie, denn die Mordserie in Whitechapel dauerte an, und mit jeder Stunde, die verstrich und in der die Polizei länger im Dunkeln tappte, konnte das Feuer der Revolte, das bereits jetzt an einigen Stellen im East End loderte, sich zu einem Flächenbrand ausweiten…
5
P ERSÖNLICHER T AGEBUCHEINTRAG
Warum mache ich weiter?
Haben mir die Ereignisse von St. James nicht deutlich gezeigt, dass sich nichts geändert hat? Dass die Unredlichkeit, die meinen Vater einst ins ferne Yorkshire trieb, noch immer in London zu Hause ist? Ich kann nur Vermutungen anstellen.
Vielleicht ist es die Zuneigung zu meinem Patenonkel, die mich an diesem rätselhaften Fall weiter forschen lässt, obwohl eine innere Stimme mir zur Vorsicht rät. Vielleicht auch das Pflichtbewusstsein, zu dem mein Vater mich trotz allem erzogen hat. Vielleicht hat mich auch die große Stadt mit all ihrem Lärm und ihrer Sucht nach dem Modernen schon korrumpiert, so wie sie es mit allen tut, die sich ihrem Reiz ergeben. Vielleicht aber haben Onkel Mortimer und seine Freunde es einfach nur geschafft, in mir wieder jene Neugier zu entfachen, die einst meine hervorstechendste Eigenschaft war und die ich mit Vaters Tod verloren glaubte.
Feststeht, dass ich Unterstützung brauche. Obwohl ich mich nicht gerne an unser letztes Treffen erinnere und ich die Bedenken meines Onkels in mancher Hinsicht teile, glaube ich, dass Maurice du Gard die beste Hilfe ist, die ich bekommen kann – vielleicht auch nur deshalb, weil er ein Teil jener Vergangenheit ist, die ich seit Vaters Tod so schmerzlich vermisse.
Seit unsere Wege sich damals getrennt haben, habe ich nichts von ihm gehört. Ich ahne, dass es alles andere als leicht sein wird, ihn zu finden…
S PITALFIELDS , L ONDON
10. N OVEMBER 1883
Von außen betrachtet, unterschied sich das Haus in der Princelet Street in nichts von den anderen Gebäuden, die die enge Straße säumten: ein schmaler, schmutziger Backsteinbau mit hohen Fenstern, in dessen winzigen Kammern ganze Familien hausten. Auf Leinen, die quer über die Straße gespannt waren, hing Wäsche zum Trocknen, die schwerlich als sauber bezeichnet werden konnte, und auf den Stufen des Eingangs kauerten elende Gestalten, die Gesichter aufgedunsen und rot vom Gin.
Im Parterre des Gebäudes war ein Laden untergebracht, der mit Gebrauchsgegenständen aus zweiter und dritter Hand handelte – neue Dinge konnte sich niemand leisten, der in Spitalfields oder im angrenzenden Whitechapel lebte. Das eigentliche Geschäft jedoch wurde nicht im, sondern unter dem Laden gemacht. Eine hölzerne Falltür öffnete den Zugang zu einer steilen Treppe, die bei jedem Tritt bedenklich knarrte. Wer das Wagnis auf sich nahm, sie zu begehen, der fand sich in einer von Kerzen beleuchteten
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